Delirium bringt den Sterbenden Trost.
Ich hatte in einer geordneten Welt gelebt. Einkommen und Terminkalender waren wichtig gewesen. Meine Großmutter mit ihren Ängsten gehörte in diese Welt.
«Ist das denn nicht riskant?«hatte sie gefragt.
Riskant war gar kein Ausdruck.
«Nein«, antwortete ich ihr.»Das ist harmlos.«
«In einen Hurrikan hineinzufliegen muß doch gefährlich sein!«
«Ich komme heil wieder«, hatte ich gesagt.
Aber jetzt rollte ich mehr tot als lebendig in turmhohen, sturmgetriebenen Wellen herum, die unvorstellbare Wassermassen aus der Tiefe ansaugten und sie als flüssige Berge um die Wette rennen ließen. Manchmal rissen mich diese Kaventsmänner unerbittlich mit. Manchmal begruben sie mich unter sich, bis meine gepeinigte Lunge nur noch danach lechzte, etwas einatmen zu dürfen, zur Not auch Wasser, obwohl doch nur Luft den Organismus in Gang hielt.
Ich hatte karibisches Salzwasser in Mengen geschluckt.
Es war seit Stunden dunkel, nirgends ein Lichtschein. Ich wußte kaum noch, wo oben war. Wo Luft war. Meine Arme und Beine hatten mir nach und nach den Dienst versagt. Mein zunehmend auseinandergeratener Verstand ließ mich leuchtendbunte Bilder sehen, die in meinem Kopf erstrahlten.
Deutlich sah ich meine erdverhaftete Großmutter vor mir. Ihren Rollstuhl. Ihre Silberschuhe. Sah ihre angsterfüllten runden Augen, sah, wie ihr Böses schwante.
«Tu’s nicht, Perry. Das ist mir unheimlich.«
Wer hört schon auf seine Großmutter?
Als sie in meinem Kopf redete, bewegte sich ihr Mund nicht synchron zu den Worten.
Ich ertrinke, dachte ich. Die Wellen werden größer. Der Sturm wird schlimmer. Bald schlafe ich ein.
Am Ende bringt das Delirium Trost.
Am Anfang war es nur Spaß.
Kris Ironside und ich, beide ledig, beide einunddreißig und gelernte Meteorologen mit dem Auftrag, dem Fernseh- und Hörfunkpublikum daheim darzulegen, wie sich die unsichtbaren Schwingungen und Unregelmäßigkeiten in der Atmosphäre praktisch auswirken, hatten zufällig festgestellt, daß sich unsere Urlaubswochen zeitlich überschnitten.
Wir arbeiteten beide für das BBC-Wetterstudio und sagten im Wechsel mit mehreren anderen Kollegen der Nation das gute und das schlechte Wetter voraus. Von morgens früh bis Mitternacht hörte man unsere vertrauten Stimmen, und da unsere Gesichter mal lächelnd, mal ernst in Millionen Haushalte hineinschauten, konnten wir nirgends hingehen, ohne erkannt zu werden.
Kris gefiel das so, und mir hatte es auch einmal gefallen, aber jetzt konnte ich dem schon lange nichts mehr abgewinnen und fand im Gegenteil das unweigerliche Erkanntwerden manchmal richtig ärgerlich.
«Sind Sie nicht…?«
«Der bin ich, ja.«
Ich machte in Ländern Urlaub, wo man mich nicht kannte. Eine Woche Griechenland. Elefanten in der Serengeti. Mit dem Einbaum den Orinoco hinauf. Kleine Abenteuer. Nichts Halsbrecherisches oder was einem den Atem verschlug. Ich führte ein geregeltes Leben.
Kris tippte mit dem Daumen an den Urlaubsplan am Schwarzen Brett. Seine Hand zitterte vor Unwillen.
«Oktober-November!«schimpfte er.»Dabei wollte ich den August haben.«
Das war im Januar gewesen. Den August bekamen vorzugsweise die Mitarbeiter mit schulpflichtigen Kindern. Kris hatte nie eine reelle Chance für den August gehabt, aber bei Kris ging das Hoffen häufig über die Vernunft. Mit seiner chaotischen, unberechenbaren Ader — der manischen Seite seines Wesens — war er immer gut für einen Abend in der Kneipe, aber nach acht gemeinsamen Tagen mit ihm am Fuß des Himalaja war ich froh gewesen, wieder nach Hause zu kommen.
Mein eigener Name, Perry Stuart, stand auf der alphabetischen Urlaubsliste fast ganz unten, vor Williams und Yates. Ende Oktober also durfte ich mir die zehn Tage, die mir noch zustanden, frei nehmen und mußte am Tag vor dem großen Feuerwerk am 5. November wieder auf dem Bildschirm erscheinen. Ich zuckte die Achseln und seufzte. Alle Jahre wieder wurde ich eigens dazu ausersehen — und wohl auch damit geehrt —, die Millionen-Dollar-Frage zu beantworten, ob es am Abend des Guy-Fawkes-Tages, wenn der Himmel zum Gedenken an dessen antiparlamentarische Pulververschwörung von farbenfrohen Leuchtfeuern und Ster-nenschauern entzündet werden sollte, regnen würde oder nicht. Alle Jahre wieder bekam ich nach zutreffend vorausgesagten Regengüssen sackweise vorwurfsvolle Briefe von Kindern, die mir die Schuld an ihrer Enttäuschung gaben.
Kris folgte meinem Blick die Liste hinunter und tippte mit dem Finger auf meinen Namen.
«Oktober-November«, verkündete er ohne Überraschung.»Sag mir nichts. Den halben Urlaub vergeudest du wieder bei deiner Großmutter.«
«Wahrscheinlich.«
«Aber du siehst sie doch jede Woche.«
«Mhm.«
Was für Kris Eltern, Brüder und ein Heer von Verwandten waren, war mir meine Großmutter. Sie hatte mich als Kind buchstäblich aus den Trümmern eines durch eine Gasexplosion zerstörten Hauses gezerrt und die Trauer um meine toten Eltern ruhen lassen, um mich großzuziehen.
Was für viele meiner wetterkundigen Kollegen die Frau, die Lebenspartnerin oder die Geliebte war, waren für mich
— manchmal — die Pflegerinnen meiner Großmutter. Ich war nicht aus Prinzip unverheiratet; eher, weil es mir damit nicht eilte oder weil noch kein Aschenbrödel aufgetaucht war.
Als der Herbst nahte, ging es mit der Ironsideschen manischdepressiven Stimmungslage abwärts. Kris lief die Freundin weg, und der norwegische Pessimismus, den er zusammen mit der hellen Haut, dem langen Kinn und der hageren Gestalt von seiner Mutter geerbt hatte, verleitete ihn öfter als sonst dazu, in dem geringsten Luftdruckabfall ein heraufziehendes Sturmtief zu sehen. Kleine Gruppen der großen, breiten Öffentlichkeit entwickelten je nach ihren besonderen Bedürfnissen eine Vorliebe für bestimmte Wetterfrösche. Kollegin Beryl Yates beispielsweise war auf Hochzeiten spezialisiert, Sonny Rae beriet in seiner Freizeit Bauunternehmer oder Malerbetriebe, und der aufgeblasene alte George verriet Gemeinderäten, wann sie ihre Wasserrohre im Trocknen verlegen konnten. Landwirte, groß und klein, hielten sich an Kris und mähten ihr Heu auf die Stunde genau nach seinen Vorgaben.
Da Kris leidenschaftlicher Hobbyflieger war, stieg er an freien Tagen oft in seine Maschine und flog weite Stre-cken, um mit ihm wohlgesinnten Farmern zu Mittag zu essen. Sie holten ihre Schafe von den Wiesen, damit er landen konnte, und einer hatte sogar einmal eine ganze Zeile Trauerweiden gekappt, um ihm einen sicheren Start zu ermöglichen.
Dreimal hatte ich ihn auf solchen Ausflügen in die Landwirtschaft begleitet, doch meine eigene Fangemeinde bestand, wenn man von Kindern absah, die im Freien Geburtstag feiern wollten, hauptsächlich aus Pferdefreunden. Wie es schien, wandten sich besonders gern Trainer an mich, die ideale Bodenbedingungen für ihre schnellen Hoffnungsträger suchten, obwohl wir für bestimmte Rennen sowieso schon Vorhersagen lieferten.
Es kam vor, daß mich ein Trainer auf dem Anrufbeantworter fragte:»Montag nachmittag habe ich einen vielgetippten Starter in Windsor; kann ich mit festem Boden rechnen?«oder mir sagte:»Ich gebe meinen Steepler morgen nur für die 7200 Meter an, wenn Sie mir garantieren, daß es bis dahin regnet. «Es konnten Leute von Ponyclubs und Turnierveranstalter sein oder auch Polovereine, die Schönwetter versprochen haben wollten. Manchmal waren es Züchter, die Stuten nach Irland verschifften und auf eine ruhige Überfahrt hofften, vor allem aber waren es Rennvereine, die wissen wollten, ob sie ihre Bahn wässern sollten oder nicht, damit sie in den nächsten Tagen guten Boden hatten. War guter Boden zu erwarten, schickten die Trainer ihre Pferde. Traten viele Pferde an, kamen die Zuschauer in Scharen. Guter Boden war Gold für die Rennsportindustrie; und wehe dem Wetterfrosch, der die Wolken falsch auslegte.
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