Wie um meine Lebensgeister anzufachen, hörte der Dauerregen plötzlich auf.
Als allererstes machte ich mich daran, die Gurte der Schwimmweste zu lösen, mit dem Erfolg, daß ich sie nur in noch schlimmeren Knoten verhedderte. Sie aufzukriegen dauerte eine Ewigkeit. Meine Arme schmerzten gräßlich.
Ich hatte immer noch kein Gefühl für die Zeit. Hell war Tag, dunkel Nacht. Als das Tageslicht wieder nachließ, riß ich mich dann doch zusammen, kam mit viel, viel Mühe auf die Beine und stapfte ganz langsam barfuß vom Meer hinauf zu dem Dorf, das in ungefähr siebzig Metern Höhe auf dem Felsen lag. Sturmfluten fegen vielleicht keine so hoch gelegenen Ansiedlungen weg, aber Sturmwinde kennen da keine Hemmungen. Das kleine Dorf vom Vortag, die Häuser, die Kirche und die Pilzschuppen waren über den Haufen geweht worden.
Ich blieb regungslos stehen, die Schwimmweste baumelte an meiner Hand.
Die Betonfundamente, auf denen die Häuser gestanden hatten, waren noch an ihrem Platz; die Dächer waren verschwunden, die Bretterwände umgemäht, die Holzbalken zerbrochen, das Glas aus den Fensterrahmen herausgefetzt. Die Ziehbrunnen waren mit Schlamm und Schutt verstopft, die Eimer nirgends zu sehen.
Die Kirche hatte kein Dach mehr. Der Kirchturm und zwei Wände waren eingestürzt. Die Pilzschuppen waren verschwunden, man sah nur ihre Grundrisse am Boden.
Die einzigen Gebäude, die noch standen, waren die beiden Betonbunker mit ihren extradicken Wänden, und sogar sie zeigten Spuren eines Beschusses durch umherfliegende Trümmer.
Ohne Schuhe und ohne meine ebenfalls davongeschwommenen Socken durch das Dorf zu laufen war mühsamer als der Anstieg vom Pier, aber ich tappte vorsichtig zum ersten der beiden Betonklötze hinüber, in dem die Etagenbetten gestanden hatten, und betrat ihn.
Die Türöffnung — ohne Tür — führte durch die einen Meter zwanzig dicke Wand in zunehmendes Dunkel, an das sich meine Augen erst einmal gewöhnen mußten. Der Eingang, so erklärte ich mir schließlich das Chaos im Innern, hatte wohl frontal zum Wind gelegen. Es war noch eine ganze Menge Holz da, nur nicht mehr in Gestalt gediegener Etagenbetten. Offenbar waren die schweren Bretter durch den Raum geschleudert worden und wie Sturmböcke gegen die Wände gekracht. Der Gedanke an die Kraft, die nötig war, um solche Löcher in den Putz zu schlagen, ließ mich dankbar schaudern: Hätte uns der Sturm am Boden erwischt, hätten wir hier drin vielleicht Zuflucht gesucht.
Zuflucht. Mir wurde klar, daß hier nicht das Dach abgedeckt worden war wie sonst überall, den anderen Bunker vielleicht ausgenommen. Die auf dem Betonboden verstreuten Bretter waren weitgehend trocken. Draußen dunkelte es unter einem bedeckten Himmel, aber die Regenpause hielt an.
Heute abend würde niemand mehr kommen. In dem strömenden Regen von zuvor war das Inselchen wahrscheinlich gar nicht zu sehen gewesen. Find dich damit ab, dachte ich müde; in frühestens zwölf Stunden wird jemand kommen.
Glaub dran.
Jemand wird kommen.
Im verbliebenen Licht legte ich mehrere Bretter auf dem klammen, ungastlichen Betonboden nebeneinander, streckte mich mit dem Stützkragen der Schwimmweste als Kopfkissen darauf aus… und konnte nicht einschlafen.
Mein Durst war gestillt, aber der Hunger grub sich wie eine Schraube in meinen Magen. Seit dem Grillabend bei den Fords hatte ich nichts mehr gegessen, denn am Morgen des Flugs zu Odin war mir nicht nach Frühstücken zumute gewesen. Jetzt verfolgte mich das unverzehrte Blätterteiggebäck vom Owen-Roberts-Flughafen, bis ich es förmlich riechen konnte. Morgen früh suchst du dir was zu essen und zu trinken, sagte ich mir, aber ohne Schuhe stöberst du da draußen nicht im Dunkeln rum.
Die Inselluft war zumindest angenehm warm, und sollte es wieder regnen, saß ich im Trockenen. Hurrikane, zumal solche wie Odin, die sich nicht im Atlantik, sondern in der Karibik bilden und entfalten, sind zwar für ihre unberechenbaren Wege bekannt, aber kaum einer dreht sich um hundertachtzig Grad und kommt zurück. Wenn das überhaupt schon geschehen war, dann so selten, daß es nicht lohnte, sich darüber Sorgen zu machen.
Ich schloß die Augen, aber nach dem Durchhänger vom Tag kam mein Gehirn auf Touren und nahm vorwärts, rückwärts, nacheinander alles unter die Lupe, was mich in meine gegenwärtige mißliche Lage gebracht hatte. Es gab immer noch massenhaft offene Fragen, die ich mir beim besten Willen nicht beantworten konnte, zum Beispiel: Warum züchtet jemand Pilze auf einer winzigen Karibikinsel? Warum schickt er zwei Meteorologen durch einen Hurrikan, damit sie nach den Pilzen sehen? Aber dafür allein konnte Robin Darcy das Flugzeug doch wohl nicht gekauft haben… und er hatte es für Nicky gekauft, nicht für Odin.
Irgendwo gab es sicher jemanden, der sich einen Reim darauf machen konnte. Robin zum Beispiel, oder nicht?
Lange Zeit sah ich Kris in dem orangen Dinghy vor mir, das Entsetzen, mit dem er mich noch anschaute, als die tobenden Elemente seine Zukunft in die Hand nahmen. Wenn er sich an Bord des Dinghys halten konnte, würde er schneller als ein Rennboot über die Wellen geflogen sein. Nach der Bedienungsanleitung für das Boot, die ich nicht sorgfältig genug beachtet hatte (als erstes steigt man nämlich ein), waren ein Steuerruder und zwei Paddel an Bord, aber so ruhig, daß man sie einsetzen konnte, würde das Meer noch in Stunden nicht sein.
Ich klammerte die Möglichkeit aus, daß der Wind das Boot in die Luft gehoben hatte. Wollte nicht daran denken, daß der luftgefüllte Schlauch über den Wellen Purzelbäume geschlagen haben könnte, bis Kris ins Wasser fiel, weit weg von den Klippen von Trox.
Ich wälzte mich unruhig auf dem harten Bretterbett und setzte mich lange vor Tagesanbruch schon draußen vor die Bunkerwand und staunte, wie viele Sterne ich sah.
Der Hurrikan war vorbei. Die Nacht war wolkenlos und still. Nur die Wellen, die mit fernem, fauchendem Schlag schwer an der zerstörten Landungsbrücke entlangrollten, erzählten von der furchtbaren Gewalt, die gestern das kleine Dorf verwüstet hatte.
Der Hunger brachte mich auf die Beine, sobald ich sehen konnte, wo ich hintrat, aber ich wußte ja schon, daß alle Schränke hier leer waren, auch wenn sie noch standen. Die Bewohner von Trox hatten die Insel mit Sack und Pack verlassen. Vergebens schaute ich nach einem Trinkgefäß und schlürfte schließlich Regenwasser, wie ich es gerade fand.
An Eßbarem gab es lediglich vermatschtes Gras.
Vorsichtig stakste ich zu dem zweiten dickwandigen Bunker hinüber, der bei unserem ersten Besuch leer gewesen war, und wunderte mich, als ich eintrat, über die Veränderung, die der Sturm bewirkt hatte.
Zunächst einmal war auf zwei Seiten die Wandverkleidung abgerissen worden, und Schlackeziegel waren zutage getreten. Die Bunker sahen von außen zwar gleich aus, waren im Innern aber verschieden gestaltet. Der Bunker, in dem ich übernachtet hatte, bestand aus massivem Beton mit Innenputz. Die Wände des zweiten Bunkers waren mit vorgefertigten Gipsplatten ausgekleidet, und einige dieser Platten waren aus ihrer Verankerung gerissen und zu Bruch gegangen.
Weil ich darauf eingestellt war, nichts als Zerstörung zu sehen, dauerte es eine Weile, bis mir auffiel, daß kaputte Wand nicht gleich kaputte Wand war und daß sich halb versteckt hinter einer Gipsplatte, die es aus ihrer Halterung gerissen hatte, eine Art Tür befand.
Ich ging mir das genau ansehen und stellte fest, daß die Tür hinter der losen Wandplatte mit einem Zahlenschloß gesichert und nichts anderes als eine Tresortür war. Wenn man davon ausging, wie wenig die Insulaner sonst zurückgelassen hatten, würde die Schatzkammer so leer sein wie der Schrank von Mother Hubbard. Ich probierte, ob sich die Tür öffnen ließ, da der Wind schließlich alles in seiner Reichweite beschädigt hatte, aber sie widerstand meinen Bemühungen eisern, und so widmete ich mich wieder der Suche nach etwas Eßbarem.
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