«Den habe ich fallen lassen«, sagte ich und lehnte mich vorsichtig gegen die Bruchsteinmauer. Alles schwamm und drehte sich mir vor den Augen. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so groggy gewesen zu sein, und noch nicht einmal, als ich bei einem ausgesprochen unfreundlichen Rugbymatch in der Schule zuunterst im Gedränge gelandet war und mir das Schulterblatt gebrochen hatte, war mir so speiübel gewesen.
Tom Pigeon suchte, bis er mit dem Fuß gegen meine klirrenden Schlüssel stieß. Er schloß die Galerietür auf, legte mir den Arm um die Taille und brachte mich bis zur Schwelle. Seine Hunde blieben aufmerksam bei Fuß.
«Mit den Tieren komme ich besser nicht in Ihr Glashaus, hm?«sagte er.»Wird es jetzt gehen?«
Ich nickte. Er lehnte mich gegen den Türrahmen und ließ mich erst los, als er sicher war, daß ich mich auf den Beinen halten konnte.
Tom Pigeon hatte im Ort den Spitznamen Konter, den er seiner Schlagfertigkeit und seinen ebenso schnellen Fäusten verdankte. Er hatte unversehrt achtzehn Monate Gefängnis wegen schweren Einbruchs überstanden und sich als abgebrühter Teufelskerl zurückgemeldet, von dem man voll Ehrfurcht sprach. Zwielichtig oder nicht, er hatte mich unzweifelhaft gerettet, und ich fühlte mich durch seine Hilfsbereitschaft außerordentlich geehrt.
Er wartete, bis ich mich leidlich unter Kontrolle bekam, und blickte mir scharf in die Augen. Was ich in seinen sah, war nicht direkt Freundschaft, aber so etwas wie ein Wiedererkennen.
«Schaffen Sie sich einen Pitbull an«, sagte er.
Ich betrat meinen hell erleuchteten Laden und sperrte die gewalttätige Welt aus. Schade, daß ich die erlittenen Bles-suren nicht ebenso leicht aussperren konnte. Schade, daß ich mir so blöd vorkam. Daß ich so wütend und so wacklig war. Vor allem aber, daß ich so gar nicht wußte, was gespielt wurde.
Im hinteren Teil der Werkstatt gab es fließendes Wasser zum Gesicht- und Händewaschen und einen bequemen Sessel zum Ausruhen und Entspannen. Ich setzte mich und ächzte eine Weile, dann rief ich das Taxiunternehmen an und erfuhr, daß sie diesen Samstag und Sonntag leider keine Kapazitäten mehr frei hätten, mich aber auf die Dringlichkeitsliste setzen würden… ja, danke… ja, bitte… ja, gut. Ich hätte einen doppelten Cyclopropanshake mit Eis gebrauchen können. Worthington fiel mir ein, aber als ich ihn anrief, kam Bon-Bon an den Apparat.
«Gerard, mein Lieber. Ich bin so allein. «Sie schien wirklich, wie ihr ältester Sohn sich ausgedrückt hätte, voll auf Trauer zu sein.»Kannst du nicht vorbeikommen und mir Gesellschaft leisten? Worthington holt dich auch ab, und nach Hause fahre ich dich selbst. Versprochen.«
Ich sagte bedauernd, ich wolle sie nicht mit meiner Grippe anstecken, und tat den ganzen unbefriedigenden Abend lang so gut wie gar nichts mehr. Worthingtons Warnung vor der Fliegenfalle ging mir nach. Ich schätzte Bon-Bon als Freundin, wollte sie aber nicht zur Frau.
Gegen halb elf schlief ich in dem weichen Sessel ein, und eine halbe Stunde darauf weckte mich die Türglocke.
Ich mußte erst überlegen, wo ich war, fühlte mich elend, konnte kaum aufstehen und wollte es auch gar nicht.
Es läutete weiter. Ich war immer noch schlapp, stand aber schließlich mit wackligen Beinen auf und ächzte zur Werkstatt hinüber, um nachzusehen, wer um diese Zeit was von mir wollte. Trotz der üblen Abreibung, die ich bekommen hatte, war ich auch jetzt noch nicht so schlau, mich vorsichtshalber zu bewaffnen.
Allerdings entpuppte sich meine späte Besucherin als ziemlich harmlos. Und als willkommen. Wenn sie mich jetzt noch küßte und mich in den Arm nahm, dachte ich, wäre das genau die richtige Medizin.
Kommissarin Catherine Dodd nahm den Finger vom Klingelknopf, als sie mich sah, und lächelte erleichtert, als ich sie hereinließ.
«Wir haben zwei Anrufe aus dem Ort bekommen«, sagte sie als erstes.»Beide Zeugen haben offenbar beobachtet, wie Sie hier vor der Tür überfallen worden sind. Aber Sie selbst haben uns nicht verständigt, obwohl es aussah, als könnten Sie sich kaum noch auf den Beinen halten… na, jedenfalls dachte ich, ich schaue auf der Heimfahrt mal bei Ihnen vorbei.«
Sie trug wieder ihren ledernen Motorradanzug und hatte die Maschine am Bordstein geparkt. Wie schon einmal nahm sie mit einer routinierten Bewegung den Helm ab und schüttelte die rotblonde Mähne frei.
«Einer der Zeugen«, ergänzte sie,»will gesehen haben, daß Ihr Angreifer Tom Pigeon war, mit seinen Hunden. Der Mann ist ein verdammter Quälgeist.«
«Nein, im Gegenteil. Er hat die Quälgeister vertrieben. Wirklich böse Quälgeister.«
«Würden Sie sie wiedererkennen?«
Ich deutete mit einer Handbewegung an, daß ich mir nicht sicher war, führte sie zerstreut von der Galerie zur Werkstatt und bot ihr den Sessel an.
Sie betrachtete den Sessel, betrachtete die Schweißperlen, die ich auf meiner Stirn spürte, und setzte sich auf die Bank, die sonst Irish, Hickory und Pamela Jane vorbehalten war. Dankbar ließ ich mich in den weichen Sessel sinken und antwortete vage auf ihr Wer und Warum, ohne zu wissen, ob sie nun dienstlich oder einfach aus Neugier danach fragte.
«Gerard«, sagte sie,»ich habe schon öfter Leute in Ihrem Zustand gesehen.«
«Die Armen.«
«Seien Sie mal ernst, das ist nicht komisch.«
«Tragisch aber auch nicht.«
«Warum haben Sie meine Kollegen nicht gerufen?«
Tja, dachte ich, gute Frage.
«Weil ich nicht genau weiß, wer mich im Visier hat und weshalb«, sagte ich leichthin,»und weil ich jedesmal, wenn ich meine, weitergekommen zu sein, feststelle, daß ich immer noch im dunkeln tappe. Ihre Kollegen mögen keine Ungewißheit.«
Darüber dachte sie einen Moment nach.
«Dann erzählen Sie mir, was los ist«, sagte sie.
«Jemand sucht etwas, das ich nicht habe. Ich weiß nicht, was. Und ich weiß nicht, wer es sucht. Wie hört sich das an?«
«Das ergibt keinen Sinn.«
Ich verzog das Gesicht und machte ein Lächeln daraus.
«Eben. Es ergibt keinen Sinn. «Aber dafür, dachte ich mit bissigem Humor, habe ich wenigstens Bon-Bon und den Drachen, vor denen ich mich hüten muß, und ich hätte gern Kriminalkommissarin Dodd, weiß aber nicht, ob ich sie kriegen kann, und ich habe Tom Pigeon und Worthington als Schutzengel, Rose Payne alias Robins als mögliche Verdächtige und als Informant den jungen Victor Walt-man, der entweder nichts sagen kann oder nichts sagen will.
Was aber den epileptischen Lloyd Baxter anging, den Videos verwahrenden und Videos weitergebenden Eddie Payne, den 1894er Buchmacher Norman Osprey mit den Gorillaschultern oder die liebe, überdrehte Marigold, die oft schon vor dem Frühstück und regelmäßig vor dem Mittagessen stramm war, so konnten sie alle etwas mit Kassetten im Sinn haben und mehr darüber wissen, als ich mir träumen ließ.
Kommissarin Dodd zog die Augenbrauen hoch, so daß sich Falten auf ihrer glatten hellen Haut abzeichneten, und da die Fragestunde noch nicht zu Ende schien, sagte ich ohne Überleitung:»Sind Sie verheiratet?«
Sie sah ein paar Sekunden lang auf ihre ringlosen Hände, bevor sie zurückgab:»Wieso fragen Sie?«
«Sie haben diese Ausstrahlung.«
«Er ist tot.«
Sie schwieg eine Weile, dann erwiderte sie ruhig meine Frage:»Und Sie?«
«Noch nicht«, antwortete ich.
Stille kann mitunter sprechen. Sie lauschte auf das, was ich wahrscheinlich bald fragen würde, und wirkte zufrieden und entspannt.
Die Werkstatt war wie immer durch den Glasofen beheizt, auch wenn nachts und sonntags ein großer feuerfester Schirm das dröhnende Feuer in Schach hielt.
Als ich jetzt Catherine Dodds Gesicht über der engen dunklen Lederkleidung betrachtete, sah ich sie ganz deutlich in Glas vor mir — so klar und deutlich, daß der Wunsch, der Impuls, sofort ans Werk zu gehen, sich nicht zurückdrängen ließ. Ich stand auf, rückte den Schutzschirm auf die Seite und entriegelte die Schiebetür, die Zugang zu der Glasschmelze im Hafen bot.
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