Angelisa Ludville warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf das Geld, das sie durch ihr Totofenster in Empfang nahm. Bündelweise ging das Zeug jeden Arbeitstag durch ihre Hände, und schon ein kleiner Bruchteil dessen, was das Publikum auf das Spiel verschwendete, würde all ihre Probleme wunderbar lösen, fand sie. Aber Ehrlichkeit war ihr zu einer eingefleischten Gewohnheit geworden, und außerdem war es unmöglich, den Toto zu bestehlen. Die Einnahmen für jedes Rennen wurden sofort eingesammelt und überprüft. Jeder Diebstahl wäre augenblicklich aufgeflogen. Angelisa seufzte und versuchte, sich mit der bevorstehenden Sperrung ihres Telefons abzufinden.
Am Samstagmorgen kleidete Tricksy Wilcox sich mit großer Sorgfalt für den vor ihm liegenden Job an. Seine Frau hätte ihm, wäre sie nicht im Supermarkt mit dem Aufstapeln gebackener Bohnen beschäftigt gewesen, von den fluoreszierenden, orangefarbenen Socken abgeraten. Tricksy, der sich im Schlafzimmerspiegel nur bis zu den Knien hinunter sehen konnte, war felsenfest davon überzeugt, daß der dunkle Anzug, die gedämpfte Krawatte und der braune Filzhut ihm das Aussehen eines ordentlichen, vornehmen Rennbesuchers gaben. Er hatte sich sogar ohne Widerstreben sein Haar um fünf Zentimeter gekürzt und seinen üppigen Schnurrbart entfernt. Mit einem übergroßen Fernglasfutteral über der Schulter betrachtete er mit beifälligem Grinsen seine Verwandlung und machte sich leichten Schritts auf den Weg zum Zug nach Kingdom Hill.
Auf dem Rennplatz drehte Major Kevin Cawdor-Jones wie an jedem Renntag und mit dem gewohnten Mangel an Gründlichkeit seine Inspektionsrunde. Die Schluderigkeit seiner Geschäftsführung hatte außerdem zur Folge, daß das Polizeiaufgebot eine halbe Stunde zu spät und nicht in notwendiger Stärke auf dem Rennplatz erschien; außerdem waren beim Drucker nicht genug Rennkarten bestellt worden.
«Macht doch nichts«, wehrte Cawdor-Jones das Ganze mit einem Achselzucken ab.
Mrs. Angelisa Ludville fuhr mit fünfzig Kollegen in dem totoeigenen Bus zum Rennplatz. Sie sah sich durchs Fenster die vorbeifliegenden Vororte an und dachte trübsinnig über den Preis für Elektrizität nach.
Am Samstagnachmittag um halb drei war sie ganz in das Einerlei ihrer Arbeit versunken, gab Wettscheine aus, nahm Geld entgegen, konzentrierte sich auf ihre Tätigkeit und war einigermaßen glücklich. Sie ordnete ihre Kasse für das Drei-Uhr-Rennen, das größte Rennen des Tages. Schon bald würden sich die besonders langen Schlangen draußen bilden, und Geschwindigkeit und Geschicklichkeit beim Abfertigen der Wetten waren nicht nur ihre Aufgabe, sondern in der Tat ihr Stolz.
Um 14.55 Uhr befand sich Cawdor-Jones in seinem Büro neben der Waage und versuchte, das Durcheinander der
Löhne für die Aushilfsarbeiter zu entwirren. Um 14.57 Uhr klingelte sein Telefon ungefähr zum zwanzigsten Mal seit zwei Stunden. Als er den Hörer aufnahm, waren seine Gedanken immer noch bei den fraglichen Stundenlöhnen für die Leute, die die herausgerissenen Grasplacken wieder in die Bahn steckten.
«Cawdor-Jones«, sagte er automatisch.
Ein Mann mit irischem Akzent begann mit leiser Stimme zu sprechen.
«Was?«sagte Cawdor-Jones.»Sprechen Sie doch bitte lauter. Es ist hier drin so laut… ich verstehe Sie nicht.«
Der Mann mit dem irischen Akzent wiederholte seine Botschaft in demselben leisen, fast flüsternden Tonfall.
«Was?« sagte Cawdor-Jones. Aber sein Anrufer hatte bereits aufgelegt.
«O mein Gott«, sagte Cawdor-Jones und streckte die Hand nach dem Schalter aus, der ihn mit der rennbahneigenen Lautsprecheranlage verband. Er blickte gehetzt auf die Uhr. Ihre Zeiger tickten auf 14.59 Uhr zu, und in diesem Augenblick wurden die vierzehn Starter für das DreiUhr-Rennen in die Startboxen geführt.
«Ladies und Gentlemen«, sagte Cawdor-Jones, dessen Stimme aus jedem Lautsprecher auf der Rennbahn schallte.
«Wir haben eine Warnung bekommen, daß irgendwo auf der Tribüne eine Bombe versteckt worden sei. Würden Sie sich bitte alle sofort von Ihren Plätzen erheben und in die Mitte der Bahn begeben, die Polizei wird eine Durchsuchung in die Wege leiten.«
Der Augenblick ungläubigen Schreckens dauerte weniger als eine Sekunde: Dann strömte die gewaltige Menge der Zuschauer wie ein Fluß die Treppen hinunter, aus den Unterführungen herauf, durch die Türen hinaus, rannte, stürmte und kämpfte sich mit Ellbogen der Sicherheit des freien Raumes auf der tribünenfernen Seite der Rennbahn zu.
Die Bars leerten sich dramatisch, halbvolle Gläser wurden in der Panik umgeworfen und zerbarsten. Die Menschenschlangen am Toto schmolzen augenblicklich dahin, und die Wettscheinverkäufer liefen ihnen Hals über Kopf hinterher. Die Rennaufsicht verließ ihr abgelegenes Büro in würdevollem Laufschritt hügelabwärts, und die Journalisten eilten holterdiepolter den Ausgängen zu, ohne sich die Zeit zu nehmen, ihre Zeitungen zu verständigen. Die Redaktionsbüros zu Hause konnten eine halbe Stunde warten. Bomben warteten nicht.
Binnen zwei Minuten hatten die wogenden Menschenmengen sämtliche Gebäude der Rennbahn verlassen. Nur sehr wenige blieben zurück, zuvorderst Kevin Cawdor-Jones, dem es noch nie an persönlichem Mut gemangelt hatte und der es nun als seine soldatische Pflicht ansah, auf seinem Posten zu bleiben.
Die unterbesetzte Polizeitruppe sammelte sich nach und nach vor der Waage — keiner unter ihnen, der nicht seine natürliche Angst hinter einer zuversichtlichen Miene verborgen hätte. Vielleicht wieder so ein dämlicher Scherz, meinte man untereinander. Es war immer ein Scherz. Oder fast immer. Ihr Vorgesetzter übernahm die Organisation der Durchsuchung und wies den Zivilisten Cawdor-Jones an, sich in Sicherheit zu bringen.
«Nein, nein«, sagte Cawdor-Jones.»Während Sie nach der Bombe suchen, werde ich feststellen, ob auch wirklich alle gegangen sind. «Er lächelte ein wenig nervös und verschwand mit energischem Schritt in der Waage.
Alles in Ordnung hier, dachte er und warf noch einen hastigen Blick in den Waschraum der Jockeys. Alles in Ordnung im Richterturm, der Dunkelkammer für die Entwick-lung der Zielfotos, den Küchen, dem Boilerraum, dem Toto, den Büros, den Lagerräumen. Er hetzte von Gebäude zu Gebäude, denn er kannte alle Hinterzimmer, kannte jeden Winkel, in dem ein tauber Mitarbeiter der Rennbahn oder ein betrunkener Besucher ahnungslos herumsitzen konnte.
Er sah keinen Menschen. Er sah keine Bombe. Er kam etwas außer Atem wieder vor der Waage an und wartete auf einen Bericht der langsameren Polizei.
Währenddessen setzte Tricksy Wilcox seine erstklassige Idee nachlässig in die Tat um. Er grinste bei der Erinnerung an den irischen Akzent, der gut genug für einen Eintritt in die Schauspielergewerkschaft gewesen war, und eilte mit schnellem Schritt von Bar zu Bar, von Tür zu Tür, und füllte sein großes, leeres Fernglasfutteral mit Futter. Es war doch erstaunlich, dachte er kichernd, wie sorglos die Leute sich in Panik verhielten.
Zweimal fand er sich Auge in Auge mit einem Polizisten wieder.
«Alles in Ordnung da drin, Officer«, sagte er bestimmt und zeigte jedesmal auf den Raum, aus dem er gekommen war. Jedesmal glitt der Polizeiblick arglos über die Melone, den dunklen Anzug, die gedämpfte Krawatte und hielt ihn für einen Mitarbeiter der Rennbahn.
Nur die orangefarbenen Socken verhinderten, daß er ungeschoren davonkam. Ein Polizist, der seinem entschwindenden Rücken nachsah, runzelte unsicher die Stirn, als ihm die leuchtenden Abschnitte zwischen Hosenbein und Schuh auffielen, und ging langsam hinter ihm her.
«He…«, sagte er.
Tricksy drehte sich um, sah das Gesetz in Gestalt des Polizisten auf sich zukommen, verlor die Nerven und stürmte los. Tricksy gehörte eben nicht zu den hellsten Köpfen.
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