Oliver überlegte mit etwas mehr Objektivität, daß Joanie das nicht so gewollt hatte: Daß sie nicht gewußt habe, wozu ihre Gleichgültigkeit führen würde. Kein Gericht würde sie für schuldig befinden, nicht der unbeabsichtigten Tötung, geschweige denn des Mordes. Die Sache würde niemals vor Gericht kommen.
Oliver, dem plötzlich wieder Monas einfaches Testament in den Sinn kam, beschloß sofort, ihren nächsten Reihenhausnachbarn zu fragen, was wohl am besten mit Monas» Krempel «zu tun sei, den sie Cassidy vermacht hatte. Wenn der Nachbar etwas mit den Sachen anfangen konnte, wären sie ja schon an eine gute Adresse gelangt. Er ließ Cassidy aufgebracht im Haus zurück, fuhr mit seinem Range Rover in die Stadt und traf vor Monas kleinem Häuschen auf einen Lieferwagen von Peregrines Firma —»Peregrine Vine and Co., Quality Auctioneers«. Arbeiter in Overalls waren eifrig damit beschäftigt, Monas armselige Habseligkeiten und ihr Mobiliar zu verladen.
Monas Nachbarin stand in Lockenwicklern, Pantoffeln und geblümter Schürze über dem Kleid zitternd draußen auf der schon winterlichen Straße; jede ihrer Muskelzuk-kungen verriet vergeblichen Protest.
Oliver machte dem Exodus ein Ende und redete mit der Nachbarin.
«Mona war noch keine sechs Stunden tot«, sagte sie entrüstet,»als Joanie persönlich herkam, um die Sachen ihrer
Mutter durchzugehen. Ich bin überzeugt, daß sie nicht fand, was sie suchte. Sie warf Dinge zu Boden und fuhr im Zorn davon. Deswegen räumen sie das Haus jetzt so schnell aus. Wie Hyänen. Mona hat ihr Heftchen mit den Rentenmarken hiergelassen und ebenso das Geld, das für die Miete eingezahlt werden sollte, solange sie bei Ihnen wohnte. Sie werden doch nicht darauf aus sein, oder? Es ist nicht sehr viel. Was soll ich wegen der Miete unternehmen?«
Oliver sagte, er würde sich um die Miete kümmern und auch um alles andere. Er rief Peregrine von seinem Handy aus an, um ihm mitzuteilen, daß Mona ein Testament hinterlassen habe, und klärte ihn darüber auf, wie dessen Bestimmungen aussähen.»Weisen Sie also bitte Ihre Leute an, mein lieber Freund«, sagte er höflich, aber mit unabweisbarer Autorität,»den Lieferwagen sofort wieder auszuladen.«
Peregrine dachte kurz nach und tat dann, worum Oliver ihn gebeten hatte. Er hatte den Lieferwagen nur geschickt, weil Joanie sich darauf versteift hatte, aber sie hatte ihm nicht erklärt, warum alles so eilig vonstatten gehen müsse: Es gab ja nichts Wertvolles in Monas Wohnung, weit gefehlt, aber mit Joan (so vertraute Peregrine Oliver von Mann zu Mann an) gingen manchmal eben die Pferde durch. Allerdings würde sie ziemlich wütend sein, wenn sie erfuhr, daß Mona ihren wertlosen alten Müll jemand anderem vermacht hatte.
«An Monas Beerdigung«, fuhr Oliver fort,»würden Cassidy und ich gern teilnehmen. Wir hatten sie sehr gern, wie Sie ja wissen.«
Peregrine fragte, welcher Tag ihm passen würde.
«Jeder Tag, außer dem kommenden Mittwoch«, erwiderte Oliver.»Dann fliegt Cassidy zu einem Konzert nach
Schottland, und ich muß mittags eine Rede halten, die ich nicht verschieben kann.«
«Es war Monas eigene Schuld, daß sie starb«, sagte Peregrine, der plötzlich in die Defensive ging.»Joan hat ihr angeboten, zu kommen und nach ihr zu schauen, aber Mona wollte das nicht. Sie hat ein paarmal angerufen und Joan gesagt, daß sie bleiben solle, wo sie sei. Das sei sehr verletzend gewesen, sagt Joan.«
Nachdenklich sagte Oliver:»In dem Zimmer, in dem Mona krank zu Bett lag, gibt es kein Telefon. Draußen bei den Ställen war es sehr kalt, glaube ich, und es ist ein ganz schönes Stück bis zur nächsten Eingangstür des Hauses, das während unserer Abwesenheit außerdem ebenfalls ungeheizt war.«
«Was wollen Sie damit sagen?«
«Von wo aus hat Mona angerufen?«
Peregrines Schweigen dauerte so lange, daß schließlich das Gespräch mit einem neuen Thema fortgeführt werden konnte. Er erwähnte Joans Kindheitsfotos. Falls Oliver dergleichen fände…
«Ich bin mir sicher«, beruhigte Oliver ihn,»daß Cassidy Joanie alles geben wird, was sie nach Monas Wunsch hätte bekommen sollen.«
«Beerdigung an jedem Wochentag außer Mittwoch«, bestätigte Peregrine und klang dabei fast freundlich.»Ich lasse Sie den Termin wissen.«
Als Oliver heimkam, saß Cassidy nicht mehr mit gesenktem Kopf am Küchentisch, sondern war in den Salon gegangen, wo sie ihren Gefühlen am Flügel freien Lauf ließ.
Oliver setzte sich still in das weiträumige Treppenhaus, wo er sie hören konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Cassidy sang ein neues Lied, ein noch unfertiges Lied, ein
Lied mit wenigen Worten, ein Lied der Trauer in MollAkkorden.
Alle guten Songs, hatte sie Oliver einmal anvertraut, handelten von Liebe oder Sehnsucht oder Trauer. Cassidys neues Lied war von allen dreien gleichzeitig beseelt.
Als sie Oliver auf den Treppenstufen entdeckte, unterbrach sie abrupt ihr Spiel und setzte sich neben ihn.
«Was hältst du davon?«fragte sie.
«Genial.«
«Es trägt noch keinen Namen.«
«Aber du hast es für Mona komponiert«, vervollständigte Oliver den Satz.
«Ja.«
In Olivers Begleitung fuhr Cassidy am nächsten Tag mit der halbfertigen Melodie zu den Musikern in ihrem Studio in London; ihr oft tiefsinniger Liedtexter unterlegte der Musik, von der er sofort sehr ergriffen war, Worte universeller Trauer und Hoffnung. Cassidy sang den Text so sanft, daß es einem fast das Herz brach, im Flüsterton. Alle im Studio sahen bereits gewaltige Verkaufszahlen vor sich, als sie sie singen hörten.
Cassidy, die wie immer nach kreativer Arbeit total erschöpft war, schlief auf dem Heimweg in der Limousine ein. Ihr Kopf lehnte an Olivers Schulter. Oliver dachte derweil über Pläne nach, die, so nahm er an, Mona nicht gefallen haben würden. Als sie zu Hause angekommen waren, Cassidy sich gähnend zurückgezogen und der alte (jetzt nicht mehr nur vorübergehend angestellte) Pferdeknecht Oliver erzählt hatte, er habe gehört, daß Mona in zwei Tagen beerdigt werden solle, an dem bewußten Mittwoch, wurden aus Olivers unverbindlichen Plänen Absichten von felsenfester Unerschütterlichkeit.
«Mittwoch!«rief er.»Sind Sie sich sicher?«
«So hieß es unten im Gasthaus.«
Oliver telefonierte mit drei Bestattungsinstituten, bevor er das richtige am Apparat hatte.
«Mrs. Watkins? Ja, am Mittwoch.«
Oliver hakte nach. Die Antworten lauteten:»Eine einfache preiswerte Standardbestattung«, und:»Ja, es wären fast alle anderen Wochentage in Frage gekommen, da diese kurze Form der Bestattung nur wenig Vorbereitung braucht, aber die nächsten Angehörigen wollten unbedingt den Mittwoch.«
Olivers bis dahin noch auf Eis liegende Pläne wurden schlagartig dringlich.
Joanie betrog ihre verstorbene Mutter um eine letzte Würde, die Ehre, daß die Berühmtheiten, für die sie gearbeitet hatte, ihren Sarg auf dem Weg zum Grab begleiteten.
Oliver und Cassidy schickten einen großen Kranz von Lilien. Monas Nachbarn erzählten ihnen später, daß Joanie diesen Kranz achtlos beiseite gelegt habe. Joanie hatte den wenigen Trauernden, die sich eingefunden hatten, verkündet, die Bolingbrokes hätten sich schlicht nicht die Mühe gemacht zu kommen.
Monas Asche war auf einem Rosenbeet im Park des Krematoriums verstreut worden, ohne Gedenktafel. Joanie, die insgeheim über ihre Befreiung jubelte, konnte nun ihre Eltern neu erschaffen und» einer reizenden Pferdekennerin der alten Schule«, wie Peregrine es salbungsvoll formulierte, zu posthumem Ansehen verhelfen.
Obwohl Oliver und Cassidy sich dafür entschieden hatten, ihr Leben so privat wie möglich zu führen, waren sie sich natürlich beide der Tatsache bewußt, daß sie für die Öffentlichkeit Stars waren. Beide hatten in der Tat hart dafür gearbeitet, um zu werden, was sie waren, und beide beabsichtigten, diesen Status so lange wie möglich beizubehalten. Nach Monas geiziger Bestattung beschloß Oliver, seinen beachtlichen Einfluß bis zum Äußersten einzusetzen — ganz gleich, ob Mona das so gewünscht hätte oder nicht.
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