«Weißt du«, sagte Cassidy beim Pilzomelette,»diese alte Schachtel mit Bildern von Joanie im Ballkleid, die Mona mitgebracht hat… Da waren auch Bilder von uns drin.«
Oliver holte die bis dahin übersehene Schachtel aus dem obersten Fach eines Garderobenschrankes und leerte sie auf dem Tisch aus.
Zwischen den ausgeschnittenen Artikeln und Bildern von Joanie und ihnen selbst fanden sie zwei zusammengefaltete Seiten der inzwischen lange nicht mehr existierenden Lokalzeitung eines kleinen walisischen Landstädtchens. Alt, brüchig und an den Rändern vergilbt.
Oliver faltete sie vorsichtig auseinander, sehr darauf bedacht, sie nicht zu beschädigen, und nun erfuhren die beiden Bolingbrokes, was Joanie Vine so eifrig zu verbergen versucht hatte.
Mitten auf der Frontseite des ersten Blattes sah man ein Foto von drei Menschen: Mona in jüngeren Jahren, ein Kind, das als Joanie erkennbar war, und ein untersetzter, humorloser Mann. Die Schlagzeile daneben lautete:
Einheimischer gesteht Vergewaltigung eines Kindes. Zehn Jahre Gefängnis.
Idris Watkins, Stallbursche, Ehemann von Mona und Vater von Joan, bat sich des Verbrechens für schuldig bekannt und ist ohne weitere Beweisaufnahme verurteilt worden.
Auf der zweiten vergilbten Seite stand ein Bericht ohne Bilder.
Stallbursche durch Sturz in vollem Galopp gestorben.
Idris Watkins, vor kurzem auf freien Fuß gesetzt, nachdem er sechs Jahre einer zehnjährigen Strafe für die Vergewaltigung eines Kindes abgebüßt hatte, starb am Donnerstag an einem Schädelbruch. Er hinterläßt eine Witwe, Mona, und eine Tochter, Joan, dreizehn.
Nach kurzem Schweigen sagte Oliver:»Das erklärt viel, denke ich.«
Er machte Fotokopien von den alten Seiten und sandte die Kopien Joanie.
Cassidy nickte und sagte:»Soll sie nur fürchten, daß wir ihr Geheimnis lüften und ihre Sozialaufsteigerexistenz ruinieren.«
Allerdings taten sie das nicht.
Das hätte Mona nicht gewollt.
Ein strahlend weißer Stern
Eine Provinzzeitschrift, Cheshire Life, schickte mir einen Brief.
«Schreiben Sie eine Story für uns«, bat man mich.
Ich fragte:»Was soll sie beinhalten?«
«Dreitausend Worte«, lautete die Antwort.
Es war gerade Winter, und ich fuhr mit dem Wagen regelmäßig über einen Hügel, auf dem einst, in einer Höhle, ein Landstreicher gelebt hatte. Also schrieb ich über einen Landstreicher im Winter.
Diese Story beschreibt, wie man bei einer Auktion ein Pferd stehlen kann.
Tun Sie’s nicht!
Der Landstreicher war bis auf die Knochen durchgefroren. Luft- und Bodentemperatur lagen um den Gefrierpunkt, und eine schwere Decke gelblicher Schneewolken hing wie eine Drohung über dem Nachmittag. Schwarze Äste kahler Bäume knarrten im Wind, und die gepflügten Felder lagen nackt, dunkel und wartend da.
Der frierende Landstreicher, der die schmale Straße hinunterschlurfte, hatte Hunger und war von einem starken, diffusen Groll erfüllt. In diesem Stadium des Winters hatte er sich normalerweise sein Nest eingerichtet, in irgendeiner Kuhle im Boden, im Windschatten eines bewaldeten Hügels, unter einem üppigen Dach aus dem Geflecht starker Äste und dicken braunen Pappkartons. Er lag dann auf einem warmen, behaglichen Bett aus trockenen, toten
Blättern, Styropor und Säcken, und das Holzfeuer in der Nähe seiner Türschwelle brannte den ganzen Tag, so daß die Asche die ganze Nacht hindurch rot glühte. Er brachte die Zeit des Frosts und des Schnees und der Regenstürme jeweils in einem behaglichen Heim hinter sich, das er, wenn er im Frühling weiterzog, wieder zertrampelte.
Dagegen gefiel es ihm überhaupt nicht, wenn jemand anderes sein Nest zertrat, wie diese Leute es heute morgen getan hatten. Drei Leute. der Mann, dem das Land gehörte, auf dem er sich niedergelassen hatte, und zwei Leute von der Gemeinde, ein Mann in mittleren Jahren und mit harten Augen und eine steife, herrische Frau mit einem Klemmblock. Ihre lauten Stimmen, ihre dummen Bemerkungen hallten in seinen Gedanken wider und schürten seinen Zorn.
«Ich habe ihm letzte Woche jeden Tag gesagt, daß ich ihn nicht länger auf meinem Land dulden werde…«
«Diese Hütte stellt eine dauerhafte Unterkunft dar und erfordert als solche eine Baugenehmigung…«
«In der Stadt gibt es eine Herberge mit einem Schlafsaal, in dem Obdachlose für eine Nacht unterkommen können.«
Der Mann von der Gemeinde hatte begonnen, sein Zweig- und Pappkartondach in Stücke zu reißen, und die anderen hatten ihm geholfen. Er sah ihnen an, daß sein Geruch sie abstieß, und an der Art, wie sie mit spitzen Fingern zu Werke gingen, merkte er, daß sie nicht gern berührten, was er berührt hatte. Da hatte der langsam brennende Zorn sich in seine Gedanken eingenistet, aber ihm war der Kontakt mit anderen Menschen zuwider, weshalb er niemals sprach, wenn es sich vermeiden ließ. So hatte er sich lediglich abgewandt und war davongegangen, formlos, in seinen zusammengeschnürten Kleidern, schlurfend in seinen zu großen Stiefeln, bärtig und grollend und stinkend.
Dann war er zehn Kilometer weit gegangen, ganz langsam.
Er brauchte etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf, wo er vor dem nächsten Schneefall sicher war. Er brauchte ein Nest und Feuer. Seine Wut auf die Menschheit bohrte sich mit jedem bleiernen Schritt tiefer in sein Herz.
Am selben Nachmittag stand in London der Direktor des Sicherheitsdienstes der Rennbahn am Fenster seines Büros im Jockey Club und betrachtete griesgrämig den Verkehr auf dem Portman Square. Hinter ihm in dem behaglichen, hell erleuchteten Raum saß Mr. Melbourne Smith und lag ihm in den Ohren, wie er es jeden einzelnen Tag der vergangenen zwei Wochen entweder persönlich oder telefonisch getan hatte. Es ging um die laxen Sicherheitsvorkehrungen bei der Jährlingsauktion im November, bei der jemand ihm seinen gerade erst gekauften und extrem teuren Hengst gestohlen hatte.
Melbourne Smith ließ so viel Geld in die britische Vollblutindustrie fließen, daß man seine Klagen nicht ignorieren konnte, auch wenn das Ganze streng genommen eine Angelegenheit der Polizei und der Auktionatoren war und nicht des Jockey Clubs. Melbourne Smith, fünfzig, energisch, ein Mann, der gern die Fäden in der Hand hielt, war ebenso erzürnt über die Tatsache, daß jemand es wagte, ihn zu bestehlen, wie über den Diebstahl selbst.
«Sie sind einfach mit ihm rausspaziert«, sagte er zum fünfzigsten Mal gekränkt.»Und Sie haben verdammt wenig getan, um ihn zurückzubekommen.«
Der Direktor seufzte. Melbourne Smith war ihm zutiefst unsympathisch, aber er wußte dies geschickt hinter einer rauhen Herzlichkeit zu verbergen. Der Direktor mit seinem scharfen, erfinderischen Verstand hinter dem schnurrbärtigen, tweedverpackten Äußeren fragte sich, was er, abgesehen von einem Gebet um ein Wunder, wohl sonst noch tun konnte, um den verschwundenen Hengst aufzuspüren.
Erstens war die Spur erkaltet, da Melbourne Smith seinen Verlust erst gut einen Monat nach der Auktion bemerkt hatte. Er hatte wie gewöhnlich ungefähr zehn der hochbeinigen jungen Tiere gekauft, die im folgenden Sommer als Zweijährige an den Start gehen würden. Er hatte wie gewöhnlich veranlaßt, daß sie zu dem Trainer gebracht wurden, der sie zureiten, trainieren, satteln, reiten und daran gewöhnen würde, in die Startboxen hineinzugehen. Und wie gewöhnlich war er nach einer entsprechenden Zeit hergekommen, um festzustellen, wie seine Einkäufe sich machten.
Zuerst hatte ihn sein angeblich erstklassiger Junghengst verwirrt. Erst verwirrt, dann argwöhnisch gemacht und dann fuchsteufelswild. Er hatte ein Vermögen für einen gutgewachsenen, aristokratischen Jährling ausgegeben und hatte statt dessen eine spindeldürre Niete mit einem schwachen Hals im Stall stehen. Seine Neuerwerbung und dieser Wechselbalg hatten nur zwei Dinge gemeinsam: die Körperfarbe, ein dunkles Braun, und den großen weißen Stern auf der Stirn.
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