Joanie Vine begleitete ihre Mutter zu den Rennen und fand jede einzelne Minute abscheulich. Joanie Vine schämte sich für die Art und Weise, wie ihre Mutter gekleidet war, wie sie sprach und lebte; mit anderen Worten, sie wandte sich mit Grauen ab von dem ausgeblichenen Tweedhut über dem enggegürteten Regenmantel; krümmte sich bei den lauten, unfeinen Vokalen der ländlichen Waliserin und konnte sich nicht dazu überwinden, anderen gegenüber zuzugeben, daß ihre Mutter von Beruf Stallbursche war.
Joanie Vine begleitete ihre Mutter zum ersten Tag des Cheltenham Festivals — eines der prestigeträchtigsten Ereignisse im Jahreskalender der Hindernisrennen — einzig und allein deshalb, weil ihre Mutter an diesem Tag sechzig wurde und Joanie Vine für diese großzügige Selbstaufopferung auf den bewundernden Beifall ihrer Freunde hoffte. Schon vor dem ersten Rennen hatte sie beschlossen, ihre Mutter sobald als möglich im Gewühl zu verlieren. Sie verstand nicht, warum so viele Menschen hier der schlechtgekleideten Frau, die sie ganz automatisch einen Schritt hinter sich gelassen hatte, instinktiv zulächelten.
Mona Watkins — Joanie Vines Mutter — brachte ihrer Tochter pflichttreu Liebe entgegen und hätte sich niemals eingestanden, daß Joanie für sie eine an Haß grenzende körperliche Abneigung empfand. Joanie ließ sich nicht gern von Mona berühren und entzog sich jedem Ansatz einer Umarmung. Wenn Mona darüber nachdachte — das tat sie allerdings nicht oft, weil es ihr zuviel Kummer bereitete —, konnte sie Joanies Entwicklung von jugendlicher Rebellion zu aktivem Haß auf das Erscheinen des dicklichen, selbstgefälligen, dreißigjährigen, glattzüngigen Peregrine Vine in der Laienschauspieltruppe des Ortes zurückführen. Er war Assistent eines Auktionators für Antiquitäten und Kunst.
Peregrine, so hatte Joanie ihre Mutter wissen lassen, stammte aus» einer guten Familie«. Es dauerte nicht lange, bis Joanie Peregrines Oberklassen-Englisch nachahmte und jeden Hauch eines walisischen Akzents streng vermied. Joan (er nannte sie niemals Joanie, weder in der zweiten noch in der dritten Person) war zu einer hochgewachsenen Schönheit mit vollen Brüsten herangereift, und Peregrine ging bereitwillig auf Joanies Bedingung — erst Heirat, dann Sex — ein. Er betrachtete ihr Ultimatum mehr unter dem Gesichtspunkt der Moral als dem der Erpressung.
Joanie, die inzwischen nicht mehr zu Hause lebte und über ein Blumengeschäft waltete, erklärte Peregrine und dessen Eltern, daß ihre Mutter» exzentrisch «sei, eine» Einsiedlerin«, und sie nicht kennenlernen wolle. Peregrine und seine Eltern nahmen es kopfschüttelnd zur Kenntnis.
Joanie lud ihre Mutter nicht zur Hochzeit ein. Und nicht nur das, sie erzählte ihrer Mutter erst gar nicht, daß ihr einziges Kind als Braut in Weiß vor den Altar treten würde. In voller Absicht verweigerte Joanie ihrer Mutter die-sen großen Tag mütterlichen Stolzes und Glücks. Sie schickte ihr eine Ansichtskarte aus Venedig:»Letzten Samstag Peregrine geheiratet, Joanie.«
Mona stellte den Dogenpalast gleichgültig auf ihr Kaminsims und prostete dem Paar mit einem Bier zu.
Erst einige Monate später lernte Peregrine Joanies bodenständige Mutter kennen und konnte sich aus erster Hand ein Bild von allem machen: von ihrer Kleidung, ihrer Stimme, ihrem Beruf. Er war, wie Joanie es nicht anders erwartet hatte, entsetzt. Sein Instinkt riet ihm — genau wie Joanie es empfunden hatte —, die Peinlichkeit erst gar nicht ans Licht kommen zu lassen. Sie zogen in die Nachbarstadt. Peregrine erklomm die nächste Sprosse seiner Karriereleiter, und Joanie trat einem exklusiven Tennisclub bei. Ihre gesellschaftlichen Ambitionen setzten zu neuen Höhenflügen an.
Mona, die nach wie vor in ihrem kleinen Reihenhäuschen lebte, dem ehemaligen Zuhause von Joanie, fuhr weiterhin jeden Morgen und Abend mit ihrem quietschenden Fahrrad zu ihrer Arbeit in einer Kinderreitschule, wo sie sich um eine Reihe arg strapazierter Ponys kümmerte. Eines Abends, als sie dort mit ihrem Fahrrad bei den Stallungen vorfuhr, fand sie den Besitzer der Reitschule tot am Boden liegend vor, einer Herzattacke erlegen. Einige schreiende Kinder hatten sich um ihn geschart, und die Ställe standen in Brand.
Mona wurde damit fertig: Sie rettete die Ponys, beruhigte die Kinder, rief die Feuerwehr, bedeckte die Leiche — die einen erschreckenden Anblick bot — mit ihrem alten Regenmantel und wurde für Fernsehen und Presse eine Art Heldin.
«Mona Watkins, die Mutter von Mrs. Joan Vine, der wohlbekannten Gattin des angesehenen Auktionators Peregrine Vine.«
Mona war im Fernsehen zu sehen. Sie stand im Eingang ihres Häuschens und verkündete in ihrem breiten walisischen Dialekt heiter, sie sei» ja so stolz «auf ihre Tochter Joanie,»wissen Sie.«
O Schreck. Welche Demütigung.
Die hochtrabende Ankündigung, daß sie ihre Mutter zur Feier von deren sechzigstem Geburtstag mit zum Rennen nehmen würde, war ein Versuch Joanies, öffentlich ihre Wertschätzung für ihre Mutter unter Beweis zu stellen.
Am Morgen nach ihrem Tag bei den Rennen summte Mona Watkins unmelodisch vor sich hin, während sie das braune Springpferd striegelte, den Champion, dessen Pflege ihr nun oblag.
Sie summte mit geschlossenen Lippen, um nicht den größten Teil des Staubes, den sie aus dem glänzenden Fell des Braunen bürstete, in die Lungen zu bekommen. Sie summte auf die gleiche altmodische Weise, wie es Generationen von Stallknechten schon seit Jahrhunderten getan hatten, und genau wie diese spuckte sie von Zeit zu Zeit aus.
Sie mochte ihre neuen Arbeitgeber sehr, die von sich aus an sie herangetreten waren — auch eine Folge des öffentlichen Aufsehens, den der Brand in der Reitschule erregt hatte. Genau drei Wochen war sie arbeitslos gewesen. Dann hatte sie eines Tages auf ein Klopfen hin die Tür ihres Häuschens geöffnet und sich einem Mann und einer Frau gegenübergesehen — dem olympischen Goldmedaillengewinner im Springreiten, Oliver Bolingbroke, wie sie ungläubig feststellte, und seiner nicht minder berühmten Frau, der durch und durch amerikanischen wie freundlichen Cassidy Lovelace Ward. Sie war eine Country- und Western-Sängerin, die es bereits zu einem Platinalbum gebracht hatte.
Es hatte Zeiten gegeben, da war die monatelange Werbung der beiden umeinander und ihre anschließende impulsive Heirat von den Medien zynisch als bloßer Versuch gewertet worden, Publicity zu machen. Aber vier lange, von stetiger Hingabe geprägte Jahre später konnte die Welt sich kaum noch einen der beiden ohne den anderen vorstellen.
Das glamouröse Paar war in einer überlangen schwarzen Limousine vorgefahren, die wie ein Magnet viele der Anwohner der trostlosen Straße aus ihren Häusern gelockt hatte; es begleiteten sie ein schwarz uniformierter Chauffeur und ein mißtrauischer Leibwächter, dessen aufmerksamer Blick umherwanderte wie ein Radarstrahl auf der Suche nach einem Reflex.
«Mrs. Mona Watkins?«fragte Oliver Bolingbroke.
Mona war sprachlos, sie konnte nur mit offenem Mund nicken.
«Dürfen wir hereinkommen?«
Mona trat in das winzige, zur Straße hin gelegene Zimmer zurück, und ihre Besucher folgten ihr. Sie erhielten einen Einblick in eine Lebensweise, die sich vollkommen von ihrem eigenen sorglosen Wohlstand unterschied, aber zugleich konnten sie Ordnung, Sauberkeit und Stolz registrieren. Mona dirigierte ihre Gäste zu den beiden Sesseln am Kamin und schloß wie betäubt die Tür.
Oliver Bolingbroke, schlank, groß und in jeder Hinsicht kultiviert, ließ seinen Blick langsam einmal rundum schweifen, über die rosafarbene Tapete mit den Rosenknospen, das Linoleum auf dem Boden, die pfauenblauen Satinkissen auf den rostbraunen Sesseln und die glatte Blümchengardine vor den Fenstern. Kein Geld und kein Geschmack, dachte er, aber das hieß in seinen Augen nicht: kein Herz. Er war ein guter Menschenkenner und hatte außerdem überprüft, welchen Ruf Mona als Pferdepflegerin genoß. Es waren ihm nur Loblieder auf sie zu Ohren gekommen. Sie sei ungebildet, hatte man ihn gewarnt. Wenn es hart auf hart käme, könne man immer auf sie bauen, nicht aber, wenn man Fragen zu feinem Betragen habe.
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