«Okay, die Spielregeln«, sagte ich und sammelte unsere Papierabfälle in einer Tüte.»Erstens, ihr flitzt nicht blind herum und rempelt Leute an. Zweitens, Christopher kümmert sich um Alan, Toby um Edward, Neil geht mit mir. Drittens, wenn wir einen Treff ausgemacht haben, kommt ihr unmittelbar nach jedem Rennen dahin.«
Sie nickten. Das familieneigene Kontrollsystem war alt-eingeführt und vollauf akzeptiert. Sie fanden das regelmäßige Nasenzählen eher beruhigend als lästig.
«Viertens«, fuhr ich fort,»ihr lauft nicht hinter Pferden her, denn es kann passieren, daß sie auskeilen, und fünftens, wir haben zwar eine klassenlose Gesellschaft, aber ihr seid gut beraten, wenn ihr auf der Rennbahn jeden mit >Sir< anredet.«
«Sir, Sir«, sagte Alan grinsend,»ich muß mal, Sir.«
Ich scheuchte sie alle an der Kasse vorbei und kaufte ihnen Karten für die Clubtribüne. Die weißen Pappvierecke baumelten an den Reißverschlüssen von fünf blauen Anoraks. Die fünf jungen Gesichter sahen ernst und gutwillig aus, auch das von Toby, und ich erlebte einen seltenen Augenblick des Stolzes auf meine geliebten Kinder.
Als Treffpunkt vereinbarten wir eine trockene Ecke nicht weit vom Absattelring, in Sichtweite der Herrentoilette. Dann gingen wir alle zusammen durchs Eingangstor zum Clubhaus und weiter zur Tribünenvorderseite, und als ich sicher war, daß sich alle die Örtlichkeiten eingeprägt hatten, ließ ich die Älteren jeweils zu zweit losziehen. Neil, klug aber außerhalb der Brüderschar schüchtern, legte seine Hand in meine und ließ sie wie geistesabwesend dort oder hielt sich ersatzweise an meiner Hose fest, ging aber nicht das Risiko ein, abhanden zu kommen.
Sich zu verirren war für Neil wie für den phantasiebegabten Edward der absolute Alptraum. Alan lachte nur darüber; Toby legte es drauf an. Christopher, der Selbständige, verlor nie die Übersicht und fand gewohnheitsmäßig eher seine Eltern als sie ihn.
Neil war unkompliziert und hatte nichts dagegen, daß wir auf der Tribüne herumliefen, statt uns die Pferde anzusehen, die vor dem ersten Rennen jetzt regennaß durch den Führring stapften. (»Was sind die Tribünen, Pa?«»Die ganzen Gebäude hier.«) Neils reger kleiner Verstand saugte Wörter und Eindrücke auf wie ein Schwamm, und ich hatte mich schon daran gewöhnt, Bemerkungen von ihm zu hören, die ich kaum einem Erwachsenen zugetraut hätte.
Wir schauten kurz in eine Bar, die trotz des Regens ziemlich leer war, und Neil zog die Nase kraus und sagte, der Geruch dort gefalle ihm nicht.
«Das ist Bier«, sagte ich.
«Nein, es riecht wie die Kneipe, in der wir vor dem Umzug in die Scheune gewohnt haben. So wie es da gerochen hat, bevor du sie aufgemöbelt hast.«
Ich sah nachdenklich auf ihn hinunter. Ich hatte eine alte, glück- und zukunftslose Gastwirtschaft umgebaut und ihre tröpfelnden Umsätze in eine Flut verwandelt. Viele Faktoren hatten dabei mitgespielt — ein neuer Grundriß, Farben, Licht, Lüftung, Parkplätze. Ich hatte bewußt Gerüche hereingenommen, vor allem den von Brot, frisch aus dem Ofen, aber ich wußte nicht, was ich verbannt hatte außer schalem Bier und abgestandenem Rauch.
«Wonach riecht es?«fragte ich.
Neil bückte sich und hielt das Gesicht dicht über den Fußboden.»Nach dem fiesen Reinigungsmittel, mit dem der Wirt sein Linoleum geschrubbt hat, ehe du es rausgerissen hast.«
«Wirklich?«
Neil richtete sich auf.»Können wir rausgehen?«fragte er.
Wir gingen Hand in Hand.»Weißt du, was Salmiakgeist ist?«sagte ich.
«Das wird in den Spülstein gekippt«, erklärte er.
«Hat es so gerochen?«
Er dachte darüber nach.»Wie Salmiakgeist, aber mit Parfüm drin.«
«Widerlich«, sagte ich.
«Genau.«
Ich lächelte. Abgesehen von dem wunderbaren Augenblick der Geburt Christophers hatte ich mit Babys nie viel anfangen können, aber wenn ihr wachsender, erwachender Verstand sie erst mal befähigte, eigene Gedanken und Meinungen zum Ausdruck zu bringen, war ich immer wieder hingerissen.
Wir schauten dem ersten Rennen zu, und ich hob Neil hoch, damit er die tolle Aktion an den Hürden sehen konnte.
Unter den Jockeys, so entnahm ich dem Rennprogramm, war eine Rebecca Stratton, und nach dem Rennen (R. Stratton unplaziert) kamen wir zufällig an ihr vorbei, als sie gerade die Gurte um ihren Sattel schlang und über die Schulter weg mit den niedergeschlagenen Besitzern sprach, ehe sie zu den Umkleideräumen ging.
«Der ist gelaufen wie ein mondsüchtiges Trampeltier. Vielleicht versuchen Sie es mal mit Scheuklappen.«
Sie war hochgewachsen, ihr Körper flach, die Wangenknochen in dem schmalen, aseptischen Gesicht spitz vorspringend, und nirgends ein Zugeständnis an Weiblichkeit. Im Gegensatz zu den männlichen Jockeys, die bei ihrem typischen schnellen Trippelschritt zuerst die Fersen aufsetzten, ging sie katzenhaft federnd auf den Ballen, den Zehen, so als wäre sie sich nicht nur ihrer Kraft bewußt, sondern würde auch dadurch erregt. Die einzige Frau, bei der ich diesen Gang bisher gesehen hatte, war eine Lesbierin.
«Was ist ein mondsüchtiges Trampeltier?«fragte Neil, als sie fort war.
«Das bedeutet langsam und schwerfällig.«
«Ach so.«
Wir trafen uns mit den anderen am Sammelpunkt, und ich gab allen Geld für Popcorn.
«Pferderennen sind langweilig«, sagte Toby.
«Wenn du auf einen Sieger tippst, bekommst du von mir die gleiche Quote wie am Wettschalter«, sagte ich.
«Und ich?«fragte Alan.
«Das gilt für alle.«
Aufgemuntert gingen sie zum Führring, um sich die nächsten Starter anzusehen, wobei Christopher ihnen zeigte, wie man die Formen im Programmheft liest. Neil, der dicht bei mir blieb, sagte ohne Zögern, er tippe auf Nummer sieben.
«Wieso die Sieben?«sagte ich und schaute nach.»Die hat ihr Lebtag noch kein Rennen gewonnen.«
«Mein Kleiderkasten in der Schule hat die Nummer sieben.«
«Aha. Nun, die Sieben heißt Clever Clogs — Schnelldenker.«
Neil strahlte.
Die anderen vier kamen mit ihren Tips wieder. Christopher war für das formstärkste Pferd, den Favoriten. Alan hatte sich Jugaloo herausgesucht, weil ihm der Name gefiel. Edward setzte auf einen hoffnungslosen Fall, weil er traurig aussah und Ermutigung brauchte. Toby entschied sich für Tough Nut, weil der im Ring geschlagen und gebockt und die Leute gescheucht hatte.
Alle wollten wissen, auf wen meine Wahl fiel, und ich überflog rasch die Liste und sagte auf gut Glück» Grand-father«, Großvater, um mich anschließend über die unbewußten Tücken des Verstandes zu wundern und mich zu fragen, ob das wirklich so ein Zufall war.
Zu meiner gelinden Erleichterung gewann Tobys Tough Nut, die harte Nuß, nicht nur das Rennen, sondern hatte auch im Absattelring noch genügend Pep, um einige Male boshaft auszuschlagen. Tobys Langeweile verwandelte sich in reges Interesse, und wie so oft reagierten die anderen auf seine Stimmung. Außerdem hörte es auf zu regnen. Der Nachmittag fing erst richtig an.
Später ging ich mit ihnen die Bahn hinunter, um das vierte Rennen, eine 3-Meilen-Steeplechase, von einem schwierigen Sprung aus zu verfolgen. Es war ein Graben, das vorletzte Hindernis auf der Bahn, flankiert von einem naß gewordenen Rennplatzarbeiter in leuchtend oranger Jacke und von einem Johanniter, der Jockeys, die ihm vor die Füße fielen, Erste Hilfe erweisen sollte. Eine Gruppe von etwa dreißig Zuschauern hatte die gleiche Idee gehabt wie wir und stand hinter den Rails an der Innenbahn, verteilt zwischen Absprung- und Aufsprungseite des Hindernisses.
Der Graben selbst — im historischen Jagdrennen ein echter Entwässerungsgraben mit Wasser — war heutzutage, wie hier in Stratton Park, kein eigentlicher Graben mehr, sondern ein knapp anderthalb Meter breiter Zwischenraum auf der Absprungseite des Hindernisses. Ein im Geläuf eingelassener Balken diente den Pferden als Anhalt, wo sie abzuspringen hatten, und die Hecke aus dunklem Birkenreisig war ein Meter vierzig hoch bei mindestens siebzig, achtzig Zentimetern Tiefe: alles in allem ein Standardsprung, der für erfahrene Steepler wenig Überraschungen bereithielt.
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