Lee zuckte mit den Schultern. »Die Idee gefällt mir zwar nicht besonders, aber sie macht Sinn. Wir nehmen ihn flussabwärts mit und werfen seine Leiche später ins Wasser.«
Sparrow dachte angestrengt nach. »Ich erschieße ihn also jetzt, und wir nehmen seine Leiche mit an Bord? Na gut, ist mir auch recht«, willigte er ein und drückte die Pistole wieder an Hawkwoods Kopf.
Lee seufzte. »Ich habe keine Lust, seine Leiche an Bord zu zerren und durch die Luke zu hieven, Sparrow. Da drin ist es schon eng genug. Und schenk dir deine komische Miene, Sparrow! Ich habe meine Entscheidung getroffen, und damit basta! Gräme dich nicht, du kriegst schon noch deine Chance. Fessele ihm jetzt die Hände. Mademoiselle de Varesne wird ihn bewachen.«
Mit einem vernichtenden Blick führte Sparrow den Befehl aus.
»Und was haben Sie mit Master Woodburn vor?«, fragte Hawkwood, als er gefesselt war und Sparrow seine Pistole wieder in der Hand hatte.
»Keine Sorge, ihm passiert nichts, solange Sie tun, was ich Ihnen sage. Bring ihn an Bord, Sparrow. Na, los!«
Hawkwood kletterte – Sparrows Pistole im Kreuz – an Deck des Unterseeboots, das leicht unter seinem Gewicht schwankte.
»Sie wissen, was zu tun ist?«, fragte Lee die Französin.
»Natürlich«, sagte sie und nickte.
»Dann treffen wir uns später, wie vereinbart.« Jetzt zog Lee seine Pistole und deutete damit auf die Taue. »Ich halte ihn in Schach. Leinen los, Mr. Sparrow!«
Hawkwood warf einen Blick über die Schulter. Auf Josiah Woodburns Gesicht lag ein merkwürdiger, beinahe gehetzter Ausdruck. Wieder beschlich Hawkwood das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Aber was wollte der alte Mann ihm mitteilen? Er kam einfach nicht darauf, doch er spürte, dass er diesen Gesichtsausdruck nie vergessen würde. Sein Blick schweifte zu Catherine de Varesne.
»Leb wohl, Matthew«, verabschiedete sie sich lächelnd.
»Auf Wiedersehen in der Hölle!«, sagte Hawkwood.
Sie neigte ihren Kopf leicht nach vorne, so als würde sie diese Möglichkeit durchaus in Betracht ziehen. »Ich freue mich schon darauf.« Dann drehte sie sich um.
Sparrow stieß das Boot mit dem Ruder vom Kai ab. Ruhig wie ein Fisch im Wasser glitt das Unterseeboot durch das Tor in die Fahrrinne und dann in den Fluss.
Jago sperrte mit einem der Dietriche, die er dem Iren Willie Lonegan abgenommen hatte, die Tür zum Lagerhaus auf. Mit den Regeln der eingeschworenen Verbrechergilde in London nicht vertraut, war Willie eines Nachts in ein Stadtpalais am Eaton Square eingebrochen und hatte eine Schmuckkassette mit den Familienerbstücken der Hausherrin mitgenommen.
Dazu gehörten ein mit Rubinen besetztes Ohrgehänge, drei Paar Perlenohrringe und ein Diamantkollier. Das Schicksal ereilte ihn, als er seinen erfolgreichen nächtlichen Beutezug in Mistress Lovejoy’s Pensionat für junge Damen in der Bedford Street feierte und im Rausch vor seiner willfährigen Bettgenossin damit prahlte. Willie war kaum Zeit geblieben, in seine Kniehose zu schlüpfen, so schnell hatte man ihn zu Jago geschleppt, der ihm kategorisch die geltenden Regeln für sein Viertel erklärte. London sei sein Revier und kein dahergelaufener irischer Bauer gehe ohne seine Erlaubnis in seinem Revier auf Beutezüge. Die Bestrafung erfolgte an Ort und Stelle. Willie wurde sein Werkzeug sowie der Rest seiner Beute abgenommen und beide Daumen abgehackt. Die nützlichen Dietriche hatte Jago in weiser Voraussicht behalten.
Vielleicht war das keine so gute Idee, dachte Jago, als er über die Türschwelle trat. Hätte ich nur statt meines Knüppels und des Schlagstocks des Runners eine Pistole eingesteckt. Eine Ratte huschte über seine Füße. Das Lagerhaus kam ihm unnatürlich ruhig, ja verlassen vor. Er bog um eine Ecke und sah vor sich einen langen dunklen Gang. Er spürte ein Kribbeln im Nacken, wie immer ein Zeichen drohender Gefahr. Oft genug hatte er eine ähnliche Situation im Krieg und in den dunklen Gassen des Elendsviertels erlebt. Aber hier hatte er das Gefühl, als würde der Leibhaftige persönlich auf seinen Schultern hocken. Hier herrscht das Böse, das wusste er sofort.
»Ist heute nicht ein verdammt schöner Morgen, Officer Hawkwood? Was meinen Sie?«, grinste William Lee, steckte sich einen Stumpen in den Mund und paffte genießerisch.
Hawkwood antwortete nicht. Er saß mit vorne gefesselten Händen auf Deck, den Rücken an den Schandeckel gelehnt und starrte die Pistole in der Hand des Amerikaners an. Er fragte sich, ob er Lee überwältigen könnte, ohne eine Kugel in den Kopf zu bekommen.
So, wie ich gefesselt bin, habe ich wohl keine Chance, überlegte er. Außerdem ist da noch Sparrow an der Ruderpinne. Der Matrose hatte den Mast aufgerichtet und die Segel gesetzt. Jetzt trieb sie eine leichte Brise nahe am östlichen Ufer stromabwärts. Mill Way lag backbord, Wells’s Yark steuerbord am gegenüberliegenden Themseufer.
Als das Boot am Ende der Fahrrinne aus dem Lagerhaus in den Fluss eingeschwenkt war, hatte Hawkwood mit Blicken den Kai abgesucht. Ihr Ruderboot hatte noch vertäut dagelegen, aber kein Jago war zu sehen gewesen. Wäre das Boot weg gewesen, hätte er davon ausgehen können, dass Jago jetzt auf dem Weg zu Richter Read war. Aber so war es wahrscheinlicher, dass Jago seine Anweisung nicht befolgt hatte und jetzt im Lagerhaus nach ihm suchte.
Natürlich, dachte Hawkwood, Ritter Jago eilt mal wieder zu meiner Rettung herbei. Aber dieses Mal kommt er zu spät.
»Master Woodburn hat mir erzählt, das Boot sei beschädigt worden«, sagte Hawkwood, um Lee zum Reden zu bringen und auf diese Weise vielleicht das Unvermeidbare hinauszuzögern. Was er zwar nicht glaubte, aber in seiner Situation musste er nach jedem Strohhalm greifen.
Lee zog träge an seinem Stumpen und schnippte die Asche über Bord. »Der Schaden konnte repariert werden.« Er warf Hawkwood einen amüsierten Blick zu. »Es geschah bei einem Sturm im Ärmelkanal. Dabei ist auch ein Mann über Bord gegangen. Deshalb musste ich Sparrow anheuern. Scully hat ihn angeschleppt.« Lee nahm den Stumpen aus dem Mund und stieß damit nach Hawkwoods Gesicht. »Und jetzt habe ich auch Scully verloren. Sir, Sie haben allerhand auf dem Kerbholz.«
»Warum wollen Sie Ihren Sabotageakt ausgerechnet hier ausführen?«, stellte Hawkwood die Frage, die ihn quälte, seit er mit Jago das Amtszimmer des Richters verlassen hatte. »Das ist doch heller Wahnsinn. In der Flussmündung hätten Sie viel mehr Platz zum Manövrieren, und der Fluchtweg in die Ostsee stünde Ihnen offen. Herrgott noch mal, die Werft in Deptford ist doch eine Todesfalle.«
Lee antwortete mit weit ausholender Geste: »Sie wissen doch, warum die Docks hier gebaut wurden, nicht wahr, Officer Hawkwood. Weil sie mitten in London liegen und vor feindlichen Invasionstruppen geschützt werden können. Deptford ist weder das größte noch das strategisch wichtigste Dock – nicht wie die Häfen von Chatham oder Portsmouth –, aber ein derartiger Angriff wird die ganze Nation aufrütteln und weltweit Aufsehen erregen. Können Sie sich ausmalen, welche Auswirkungen es haben wird, wenn ich euer neuestes Kriegsschiff mit dem Prinzen von Wales an Bord mitten in eurer verdammten Hauptstadt versenke? Eure Jungs von der Admiralität werden sich einen Monat lang in die Hosen pissen! Ich werde den britischen Streitkräften einen Schlag verpassen, von dem sich das Land so schnell nicht wieder erholen wird. Dann könnt ihr mit eurer ganzen verdammten Marine den Rückzug antreten. Deswegen sind wir hier, Officer Hawkwood.«
Die Tür zu dem kleinen zellenartigen Raum stand halb offen. Jago stieß sie mit seinem Knüppel ganz auf. Der Geruch des Todes schlug ihm entgegen. Die Leiche lag rücklings auf der Pritsche. Aus der durchtrennten Halsschlagader sickerte noch immer Blut.
Jago war kein religiöser Mann, trotzdem bekreuzigte er sich. Und während er auf die Leiche hinunterstarrte, wurde er von zwei Gefühlen gleichzeitig überwältigt: einem maßlosen Zorn über diesen sinnlosen Tod und der unerträglichen Gewissheit, dass er Hawkwood wahrscheinlich nie wieder lebend sehen würde.
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