»Nun, ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, mein Junge. Ich wünschte mir allerdings, wir wären uns unter günstigeren Umständen begegnet.« Dann machte er eine einladende Geste. »Setzen Sie sich aufs Bett, damit ich Ihre Kopfwunde begutachten kann. Ich nehme an, Sie sind denselben Grobianen in die Hände gefallen, die mich hier gefangen halten.«
Während der alte Mann Hawkwood beim Aufstehen half und ihn zum Bett führte, sah sich der Runner um. In dem kleinen Verließ gab es außer einer Pritsche in der Ecke nur noch einen Tisch und einen Stuhl. Auf dem Tisch standen eine Schale, ein Krug und ein Blechbecher, daneben ein Teller mit Brot und Käse, Proviant, den Sparrow in seinem Rucksack gehabt hatte. Durch ein kleines, vergittertes Fenster hoch oben in der gegenüberliegenden Wand fiel ein Sonnenstrahl. Hätte Hawkwood es nicht besser gewusst, wäre er sich wie in einer Zelle in Newgate vorgekommen.
Josiah Woodburn klopfte auf die Pritsche. »Setzen Sie sich, mein Junge. Setzen Sie sich.«
Während der Uhrmacher seine Wunde untersuchte, machte sich Hawkwood ein Bild von dessen Zustand. Sein Gesicht war blass, sein Rock und seine Kniehose wirkten zwar ordentlich, waren aber stellenweise schmutzig. Hawkwood erkannte in ihm einen Mann, der auch unter widrigsten Umständen bemüht war, seine Würde und seine Fassung zu bewahren.
Josiah Woodburn schnalzte mitfühlend mit der Zunge. »Mir scheint, Sie haben schon ein paar Kriege mitgemacht. Aber auch diese Verletzung werden Sie überleben. Es ist nur eine Platzwunde.« Dann tätschelte er väterlich Hawkwoods Knie. »Nun erzählen Sie mal, wie Sie mich gefunden haben.«
Hawkwood wollte gerade anfangen zu erzählen, als der alte Mann die Hand hob und sagte: »Erst muss ich mich um Archimedes kümmern. Er ist ein Quälgeist, solange er nicht sein Frühstück bekommt.«
Archimedes? Hawkwood brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass die Ratte gemeint war. Das Nagetier saß tatsächlich noch da, zuckte mit den Schnurrhaaren und starrte die beiden Männer keck, mit funkelnden Augen an. Der alte Mann brach ein Stück Käse ab und warf es auf den Boden. Die Ratte sprang hinterher, biss in den Brocken und verschwand damit durch einen schmalen Spalt in einer der Ecken.
»So«, sagte der Uhrenmacher zufrieden, »jetzt wird sie uns nicht mehr belästigen. Nun erzählen Sie, wie Sie mich gefunden haben. Ist Officer Warlock die Flucht gelungen?«
Hawkwood fühlte sich, als hätte Reuben Benbow ihm einen Aufwärtshaken verpasst. »Warlock war hier?«, fragte er und starrte den Uhrmacher fassungslos an.
»Ja, natürlich. Vor seiner Flucht haben wir …«
Der alte Mann verstummte, als er den Ausdruck in Hawkwoods Gesicht sah.
Hawkwood fasste sich wieder und hakte nach: »›Vor seiner Flucht‹, was heißt das?«
Erst als Josiah Woodburn nach Luft schnappte, merkte Hawkwood, dass er dessen Handgelenk mit schmerzhaftem Griff umklammert hatte. Er ließ es sofort los.
»Aber ich dachte, die Behörden hätten Sie hierher geschickt, nachdem Officer Warlock …«
»Officer Warlock ist tot«, sagte Hawkwood. »Diese Schufte haben ihn ermordet.«
Der Uhrmacher fragte entsetzt: »Und wie sind Sie …«
»Ich glaube, diese Frage sollte ich Ihnen stellen«, entgegnete Hawkwood und wartete geduldig, bis sich Woodburn so weit gefasst hatte, dass er die Geschichte seiner Entführung erzählen konnte. Wie sich herausstellte, war Runner Warlock auf die Spur des Uhrmachers gestoßen, indem er Lord Mandrakes Kutscher befragt hatte. Davor war Warlock von Quigley in Woodburns Werkstatt berichtet worden, er habe den Master in einer Kutsche mit dem Familienwappen Seiner Lordschaft gesehen. Warlock war daraufhin zum Limehouse Dock gegangen, hatte sich irgendwie Zugang zum Lagerhaus verschafft und war dann Lee und seinen Konspiranten in die Hände gefallen. Damit waren viele Fragen beantwortet, bis auf zwei: Wie war es Runner Warlock gelungen, von hier zu fliehen, und warum hatte er den Uhrmacher nicht mitgenommen?
»Ihrem Kollegen die Flucht zu ermöglichen war kein Problem, Officer Hawkwood«, erklärte Josiah Woodburn sachlich. »Ich habe ihm einfach die Tür geöffnet.«
Hawkwood glaubte, sich verhört zu haben. Oder der Schlag auf seinen Schädel hatte mehr Schaden angerichtet, als er ursprünglich angenommen hatte.
»Vergessen Sie nicht, mein Junge, ich bin Uhrmacher. Seit über fünfzig Jahren stelle ich komplizierte Zeitmesser her«, erklärte der alte Mann lächelnd und hob wie um Verständnis bittend die Hände. »Das sind meine Werkzeuge. Einfache Schlösser bergen für mich keine Geheimnisse.«
Als Hawkwood Master Woodburn noch immer verständnislos anstarrte, griff der Uhrmacher unters Bett und holte einen gebogenen Nagel hervor. »Da, sehen Sie?«
Hawkwood musterte zuerst den Nagel und dann Woodburn. »Warum sind nicht auch Sie geflohen?«
Der Uhrmacher drehte den Nagel zwischen Zeigefinger und Daumen. Dann seufzte er: »Weil ich das Leben meiner Enkelin nicht in Gefahr bringen wollte. Elizabeth bedeutet mir alles. Als Catherine, meine Tochter, gestorben ist, hätte ich beinahe meinen Glauben verloren. Aber wenn ich jetzt meine Enkelin ansehe, weiß ich, dass Catherine noch immer bei mir ist. Meine Tochter lebt in Elizabeth weiter. Können Sie das verstehen?« Dann ballte er die Fäuste und flüsterte verzweifelt: »Diese Halunken haben gedroht, Elizabeth zu töten, wenn ich nicht tue, was sie sagen. Sie würden mir Elizabeth wegnehmen, und ich würde meine Enkelin nie wieder sehen. Sie ist doch noch ein Kind! Ich wage nicht daran zu denken, was sie ihr antun könnten. Deshalb bin ich nicht geflohen. Verstehen Sie das? Ich hatte keine Wahl. Und deshalb habe ich getan, was er mir befohlen hat.«
»William Lee?«
Der alte Mann nickte und legte eine Hand auf Hawkwoods Arm. »Er ist ein doppelzüngiger Schurke. Er plant etwas Schreckliches.«
»Wir wissen von dem Unterseeboot«, sagte Hawkwood.
Josiah Woodburn nickte wieder. »Sein Unterseeboot, ach ja, eine bemerkenswerte Erfindung. Ich kannte natürlich Fultons Konstruktionspläne. Ich bin ihm sogar einmal begegnet. Wir haben einen gemeinsamen Bekannten – Sir Joseph Banks. Er war Mitglied in der Kommission, die Premierminister Pitt vor sechs Jahren ins Leben gerufen und damit beauftragt hat, die Tauglichkeit von Fultons Projekt zu prüfen. Das war kurz vor Nelsons Sieg bei Trafalgar.«
Hawkwood erinnerte sich an sein Gespräch mit Colonel Congreve. Diese Kommission hatte das Unterseeboot zwar für funktionstüchtig, für Kriegszwecke aber nicht tauglich angesehen.
»Erzählen Sie mir, wie Lord Mandrake mit Ihnen in Verbindung getreten ist«, bat Hawkwood.
Der alte Mann seufzte. »Er hat mir gesagt, einer seiner Freunde wolle eine Uhr bei mir bestellen. Da er aber bettlägerig sei, könne er mich nicht in meinem Atelier aufsuchen. Also bot Lord Mandrake mir an, mich in seiner Kutsche zu diesem Freund fahren zu lassen. Auf diese hinterlistige Weise wurde ich dann entführt.« Josiah Woodburn blickte auf und fragte: »Haben Sie Seine Lordschaft festgenommen?«
Hawkwood schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Aber einer meiner Kollegen ist unterwegs zu seinem Landsitz. Und dann wird der Lord hängen.«
Josiah Woodburn sagte nur trocken: »Für diese Art von Verrat wird sich Lord Mandrake wohl vor einer viel höheren Instanz verantworten müssen.«
»Aber warum braucht Lee Sie?«
»Als Lee das Unterseeboot nach England überführte, wurde bei einem Sturm im Ärmelkanal der Chronometer beschädigt. Dieses Gerät ist sehr kompliziert, müssen Sie wissen. Und kann nur von jemandem mit besonderen Fähigkeiten repariert
werden – von einem Fachmann wie mir eben.«
»Wofür braucht Lee diesen Chronometer?«, fragte Hawkwood.
Josiah Woodburn sah den Runner verwirrt an. Die Frage kam ihm anscheinend überflüssig vor. »Na, für seine Unterwassergeschosse natürlich. Für seine Torpedos.«
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