Der Oberbau war aus Holz, doch die Fundamente aus Stein ließen darauf schließen, dass dieser älteste Teil des Gebäudes auf dem ursprünglichen Fundament ruhte. Die Hälfte des Lagerhauses wurde von dem Ladekai eingenommen, von dem aus die Fracht von Karren auf Barken transportiert oder umgekehrt entladen wurde. Am Ende dieses Docks befand sich die Doppeltür, die Jago vom Fluss aus entdeckt hatte. Durch die Ritzen in der Tür und zwei schmale Fenster drang etwas Tageslicht. Zusätzlich erhellten mehrere an Haken hängende Laternen den Innenraum. Hawkwood kam sich wie in einem überfluteten Kirchenschiff vor.
»Nun«, sagte Lee zu Hawkwood, »was halten Sie davon?«
Hawkwood stand nur da und starrte das Unterseeboot an.
Es war mit Leinen an Bug und Heck am Kai vertäut. Es war größer, als er erwartet hatte – etwa siebeneinhalb Meter lang. Auf den ersten Blick sah es mit seinem Holzdeck, dem spitz zulaufenden Bug und Heck wie jedes andere kleine Flussboot aus. Bei näherem Hinsehen erkannte Hawkwood jedoch die Unterschiede. Unter dem verkürzten Bugspriet ragte ein Metallstab empor, an dem strahlenförmig vier elliptische, etwa sechzig Zentimeter lange Schaufeln befestigt waren. Auch am Heck entdeckte er ein ähnliches, horizontal angebrachtes Gerät. Der Mast lag mit aufgerolltem Segel auf Deck und konnte mit Hilfe eines Scharniers aufgerichtet werden. Vor dem Mastsockel ragte aus dem Deck – gleich einem umgedrehten halben Fass – eine metallische Kuppel hervor: Der Kommandoturm, wie Colonel Congreve erklärt hatte. Eine Hälfte war über der Luke, dem Einstieg, hochgeklappt. Hawkwoods Blick schweifte wieder zum Heck. Dort war auf einem Holzrahmen ein Zylinder aus Kupfer angebracht, so groß wie ein kleines Rumfass. Ein Tau führte von dort durch eine Art Nadelöhr zur Spitze des Kommandoturms und verschwand dann in einem kleinen Loch im vorderen Deck. Die von Colonel Congreve beschriebene Unterwasserbombe – Fultons Torpedo – jetzt mit eigenen Augen zu sehen, war für Hawkwood ein Schock.
»Ist sie nicht wundervoll?«, fragte Lee mit unverhohlenem Stolz in der Stimme.
Hawkwood schwieg. Jetzt tat sich etwas an Deck des Unterseeboots. Sparrow stieg aus der Luke. In seinem Gürtel steckte eine Pistole. Er legte die Hand auf den Griff und betastete mit der anderen den Schnitt an seinem Hals. Er starrte Hawkwood voller Hass an. Dann sprang er behende auf den Kai.
»Alles in Ordnung, Sparrow?«, fragte Lee.
Der Matrose nickte.
»Fabelhaft! Dann öffne bitte das Tor und mach das Boot zum Auflaufen klar.«
Als Hawkwood Catherine de Varesne musterte, ihre schlanke Gestalt in der maskulinen Kleidung, ihr zu einem Nackenknoten geschlungenes Haar, die Pistole in ihrer Hand, und ihr Lächeln wahrnahm, fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Er musste an Scullys höhnische Bemerkung denken, als er ihn gefragt hatte, wer sein Komplize bei dem Überfall auf die Postkutsche gewesen sei: ein Meuterer wie er oder Lee.
Weder noch, Euer Ehren. Du würdest mir nicht glauben, wenn ich es verriete. Wenn du wüsstest …
Der Komplize war kein Junge und auch nicht Jago gewesen, wie er kurz vermutet hatte, sondern eine Frau, die ihren Mund nicht aufgemacht hatte, weil ihr Akzent sie verraten hätte. Sie hatte den Wachmann kaltblütig erschossen und so, wie Hawkwood sie jetzt einschätzte, wegen dieses Mordes nicht eine schlaflose Nacht verbracht.
Diese Erkenntnis schockierte Hawkwood derart, dass er wie gelähmt dastand. Da riss ihn Lee aus seiner Erstarrung. »Was ist denn los, Officer Hawkwood? Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«
Ehe Hawkwood antworten konnte, rasselte am Ende des Kais eine Kette. Sparrow öffnete das Tor.
Als die Flügel langsam aufschwangen, drang Licht ins Lagerhaus. Hinter dem niedrigen Torbogen sah Hawkwood die Fahrrinne, die zum Fluss führte. Er fragte sich, ob Jago noch immer dort im Ruderboot saß und auf ihn wartete.
Jetzt kam Sparrow zurück, nahm die Pistole aus seinem Gürtel und spannte den Hahn.
»Tja, Captain Hawkwood, es ist so weit. Was soll ich sagen? Es war mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Wirklich«, höhnte der Amerikaner und sprang an Deck des Unterseeboots. »Beeil dich, Sparrow. Die Zeit drängt.«
Sparrow hob grinsend seine Pistole und winkte Hawkwood damit an den Rand des Kais.
»Niederknien!«, befahl er.
Hawkwood rührte sich nicht von der Stelle.
Sparrow drückte ihm die Mündung in den Nacken und zischte ihm ins Ohr: »Knie nieder, du Bastard! Los!«
Da hörte Hawkwood ein qualvolles Stöhnen. Josiah Woodburn würde mit ansehen müssen, wie der Officer erschossen wurde.
Er ging in die Knie.
Sparrow schob den Lauf nach oben, drückte ihn gegen Hawkwoods Schädel und zwang ihn, den Kopf zu senken.
»Großer Gott, nein!«, flehte der Uhrmacher.
Sparrow lachte. Sein Lachen klang wie das Klappern kleiner Knochen in einem Blechbecher.
»Leb wohl, Captami « , sagte Sparrow.
»Verdammte Scheiße!«, fluchte Jago und sah wohl zum hundertsten Mal auf seine Taschenuhr. Wo, zum Teufel, bleibt Hawkwood, dachte er. Die vereinbarte Stunde war längst verstrichen. Jago war ungeduldig wie eine gefangene Raubkatze am Kai auf- und abgetigert, hatte weiter gewartet und versucht, das ungute Kribbeln in seinem Magen, das ihn immer bei heranziehender Gefahr befiel, zu ignorieren. Inzwischen war Jago fuchsteufelswild. Er war wütend auf Hawkwood, auf die ganze Welt, aber vor allem auf sich selbst, weil er Hawkwood allein hatte losziehen lassen. Aus Erfahrung wusste er, dass jedes Mal, wenn es irgendwo Ärger gab, Hawkwood in die Geschichte hineingezogen wurde – so, wie in diesem elenden Rattennest. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Nur durch einen glücklichen Zufall war Jago noch rechtzeitig aufgetaucht und hatte den Captain retten können.
Aber ich habe ihn nicht buchstäblich aus dem Feuer gezogen, damit er sofort wieder seine Nase in Dinge steckt, die ihn nichts angehen, dachte Jago wütend. Ja, gut, der Mann ist Polizist, aber lernt er denn nie etwas dazu, verdammt noch mal?
Scheiß drauf! Ich warte nicht länger. Was hat der Captain gesagt, soll ich tun, falls er nicht wieder auftaucht? Ich soll Richter Read verständigen? Jago schüttelte verzweifelt den Kopf. Wenn der Captain glaubt, dass ich zu Richter Read renne, wenn es kritisch wird, so hat er sich getäuscht. Jago bückte sich, vertäute das Boot an dem Ring am Kai und stapfte fluchend durch das hektische Treiben auf dem Hafendamm.
»Nein! Warte!«
Sparrows Finger verkrampfte sich am Abzugshahn.
»Verdammt! Ich sagte, warte! Schieß nicht!«, befahl Lee.
Der Druck an Hawkwoods Schädel ließ langsam nach, sodass er den Kopf heben konnte.
»Wir haben nur Officer Hawkwoods Aussage, dass die Behörden Lord Mandrake verdächtigen, an unserem Komplott beteiligt zu sein. Aber dafür gibt es keine Beweise, es sind nur Vermutungen. Es könnte doch ein Zufall sein, dass Seine Lordschaft ausgerechnet jetzt nach Norden gereist ist. Und es wäre doch auch möglich, dass wir sein Lagerhaus ohne sein Wissen benutzen. Lord Mandrake mit seinen mächtigen Freunden in der Regierung ist ein sehr nützlicher Verbündeter, auf den wir nicht verzichten können. Wenn wir Hawkwood hier töten und seine Leiche entdeckt wird, gibt es eine Verbindung zu Lord Mandrake. Wenn er jedoch spurlos verschwindet, was dann? Ich sage es dir, Sparrow: Dann haben sie nichts gegen uns in der Hand. Wenn seine Bow-Street-Kollegen nach ihm suchen, landen sie in einer Sackgasse, und die Spur wird kalt. Und wir können weiterhin mit Lord Mandrakes Mitarbeit rechnen. Es wäre also klüger, Captain Hawkwoods Leichnam in einem ganz besonderen Grab zu bestatten.«
»Und wo soll das sein?«, fragte Sparrow, und dann dämmerte es dem Matrosen. »Herrgott, wollen Sie ihn etwa mitnehmen? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«
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