«Das ist eine gute Frage», sagt er und blinzelt angestrengt. «Das ist eigentlich die große Frage. Sie wurde mir aber aus der Hand genommen. Ich kann und darf sie nicht mehr selbst beantworten. Sie wird über meinen Kopf hinweg entschieden, von anderen, von Fremden, von Institutionen, Richtern und Beamten.
Das heißt aber nicht, dass die Frage damit wirklich beantwortet wäre. Nicht die Spur. Sie wird immer unbeantwortbarer und verschwindet vielleicht mit der Zeit. Bestimmt. Wenn man keinen Rabatz mehr macht, schweigen die Akten, und die Fragen verstummen. Ich weiß nicht, ob ich krank bin, ob ich es war oder gerade werde. Was heißt das schon, könnte man fragen; aber ich halte nichts davon, so zu tun, als sei alles Kranke letztendlich normal und das Normale krank. So ist es nicht. Was ich weiß: Ich wäre gerne offiziell krank und inoffiziell nicht. Aber es wird wohl genau andersherum ausgehen.»
«Andersherum?», fragt Denise und sieht die kleinen Krater in seinem Gesicht. Er kommt ihr vor wie ein mitteljunger Roy Black, der in der Pubertät eine wilde Akne durchstehen musste.
«Das Gericht wird feststellen, ich sei nicht genügend krank. In Wahrheit hat das, was ich die Phase oder den verrauschten Sommer nenne, aber mein Leben ruiniert. Ich meine, wer landet schon auf der Straße? Wer macht denn dreimal dreitausend Euro Schulden in einem Monat? Wer wird in Handschellen abtransportiert?»
«In Handschellen?»
«Das muss doch ein krankes Subjekt sein. Den muss man doch wegsperren und vergessen. Den hat man abgeheftet in den Ordner der Erniedrigten und Beleidigten. Peinlich, ihn zu sehen. Jedem sind die eigenen Probleme am nächsten, das ist schon klar. Ich will einfach die Chance haben, wieder okay zu sein mit allen. Doch die Chance gibt es nicht mehr. Sie sind alle woanders, und ich bin ihnen unheimlich.»
«Mir gar nicht», sagt Denise. «Du bist mir nicht unheimlich.»
«Aber ich bin nicht mehr wie früher, und ich werde es auch nie mehr sein. Vielleicht bin ich auch nicht krank, sondern nur geschädigt. Aber will man miterleben, wie diese Schäden sich weiter in einem ausbreiten? Weil es einfach kein Zurück gibt? Das ist wie eine Wunde, die schlecht vernarbt und zu wuchern beginnt. Der Körper will es wieder hinbekommen und schießt der Lücke Fleisch zu, aber es ist zu viel und zu falsch und daneben. Die Narbe bleibt, und sie bleibt sichtbar, und die Versuche des Körpers, sie zu heilen, machen es nur noch schlimmer.»
«Leg dich einfach in die Sonne», sagt Denise. «Es ist nicht so schlimm, wenn es da eine Narbe gibt. Deine ist nur auffälliger als andere. Leg dich in die Sonne und vertrau der Natur. Die Sonne hilft am besten gegen Narben.»
«Ich meinte das mit der Narbe metaphorisch», sagt Anton. «Ich habe keine Narbe.»
«Ich weiß, Mann», sagt Denise. «Glaubst du, ich weiß nicht, was eine Metapher ist?»
«Doch, doch», sagt Anton. «Aber manchmal weiß ich es selbst nicht mehr.»
*
Aufschub und Schub. Anton hatte seinen Führerschein verloren, durch eine dumme nächtliche Alkoholaktion, und als Taxifahrer, dessen temporärer Job zum echten Beruf geworden war, konnte er ohne Führerschein nicht arbeiten.
Anstatt sich zu berappeln oder irgendetwas Sinnvolles zu machen, streunte er durch die Straßen seines Viertels und verlor schnell Rhythmus und Kontrolle. Die Beine waren leichter als sonst, und er beschleunigte den Schritt, ohne es zu merken. Bald marschierte er durch die halbe Stadt und verlor überflüssiges Gewicht, was sich gut anfühlte. Zu trinken begann er morgens, um den Rausch gar nicht erst abreißen zu lassen, und steigerte sich im Laufe des Tages mittels Hochprozentigem gleich in den nächsten Vollrausch. Dabei fühlte er sich klar wie nie, und alles lag offen zutage, die Fehler der Jahre zuvor, die ewige Trägheit, das Falsche seines Lebensweges. Er sah es alles als Zäsur, redete mit wildfremden Menschen bis tief in die Nacht, stürzte mit Frauen ab, die er sonst keines Blickes gewürdigt hätte, und verbrannte Fett- und Hirnzellen im Akkord.
Er kann es nicht mehr genau sagen, aber eines Morgens dann, nach mehreren wilden Nächten des Ausgehens und Trinkens, schien sein Hirn umgekippt zu sein wie ein vergifteter See. Das wusste er zu dem Zeitpunkt jedoch nicht. Er wachte auf und hatte Gedanken an Gott. Seine Haut brannte. Er war nicht gläubig, aber das spielte keine Rolle. Es war klar, dass Gott ihn, körperlich spürbar, meinte. Er hielt sich den Kopf, der vor Überforderung platzen wollte. Dann tat sein Fuß weh, und es schien, als sei da ein Krampf, der sich langsam bis zu seinem Herzen hocharbeiten würde. Eine Panik nahm von ihm Besitz, und er wählte schnell den Notruf. Er wisse nicht, was los sei, aber es sei sein Fuß, irgendwas sei da nicht in Ordnung, ob nicht jemand kommen könne, stotterte er in den Hörer. Bald klingelten die Johanniter und trampelten mit ihrer Bahre die Treppe hoch, zwei bärtige, muffelige Männer, schnaufend und schwer. Kurz war Anton klar, dass hier etwas falsch lief. Wieso hatte er überhaupt den Krankenwagen gerufen? Und doch, er fühlte sich hilflos und stammelte den Helfern etwas vor, die ihre Verwunderung, wenn sie denn vorhanden war, nicht zeigten. Sie hockten sich vor ihn, der auf seine Matratze niedersank, und baten ihn, doch einmal die Socken auszuziehen, was er umstandslos tat. «Ich sehe da einen Fußpilz», sagte einer der Bärtigen, «ich auch, da», bestätigte der andere. Ob das ein Witz war oder nicht, war Anton nicht zugänglich. Aber er nahm den Fußpilz sofort für etwas anderes, für eine Handlungsaufforderung oder eine Anklage oder gar ein Symptom, das in der Geheimsprache der Helfer für ein anderes Symptom stand, welches er vielleicht noch herausfinden musste. Die Sanitäter blickten ihn ungläubig an, nachdem er aufgestanden war und in Richtung Fenster gestikulierte. Pardon, sagte Anton, hier sei wohl etwas verrutscht, er sei verwirrt, irgendwas habe nicht gestimmt, aber jetzt stimme es bestimmt wieder. Die Sanitäter machten sich grummelig davon, und heute würde Anton gerne wissen, was sie denn auf dem Weg nach unten und dann im Wagen miteinander gesprochen haben, ob von möglichen Drogen oder einfacher Durchgeknalltheit die Rede war, oder von gar nichts, weil schon der nächste Einsatz drängte. Anton jedenfalls, so erinnert er sich heute, sah aus dem Fenster und dachte schräge Dinge.
Danach verblasst die Erinnerung und setzt erst wieder richtig bei einem Theaterbesuch ein, den Anton wutschnaubend abbrach, indem er das Theater türeknallend verließ und draußen auf seine Freunde wartete, um im Laufe des Abends einem der beiden einen Schlag zu versetzen, der diesen umhaute. Anton dachte nämlich, er habe Aids, und seine Freunde würden sich darüber lustig machen. Eine Unverschämtheit, die natürlich rigoros geahndet werden musste. Tief drinnen war Anton ein sehr moralischer Mensch.
Vier Tage später schien alles wieder normal zu sein. Erstmals seit langem spürte er wieder einen Kater und genoss diesen sogar. Er sah fern und ging nicht ohne seine alte Bettdecke durch die Wohnung, was er für sich «Cocooning» nannte. Auf Türklingeln und Anrufe reagierte er nicht. Die Zeit war nicht vorhanden.
Kurz darauf nahm er die ersten Kredite auf. Das Geld steht mir zu, dachte er. Bald würde er eh reich sein. Sein ganzes Leben lang hatte er den falschen Idealen hinterhergehechelt und würde in Kürze, da er frei davon wäre, eine bedeutende Erfindung machen, oder einen Hedgefonds leiten, etwas, was seinen Fähigkeiten entsprach und was ihn endlich auch gebührend entlohnen würde. Die Bankangestellten waren ihm sehr zugetan. Rhetorisch gewandt konnte er sie schnell von seinen Plänen überzeugen, bald nach Amerika zu gehen und dort ein Studium der Ingenieurswissenschaften aufzunehmen. Er bemühte sich, das Wort «engineering» fehlerfrei auszusprechen. Und so ging es weiter. Hier ein neues Konto, da eine Bahncard, die plötzlich auch als Kreditkarte funktionierte, ein weiteres Konto bei einer kleineren und noch eins bei einer Internetbank. Lag eine der neuen Karten im Briefkasten, konnte er es kaum erwarten, bis auch der PIN-Code nachgeschickt wurde. Dann hob er gleich etwas Geld ab und betrank sich auf die Zukunft. Er würde ein schönes Leben haben.
Читать дальше