Linda sitzt alleine in ihrem Zimmer und hört eine ihrer geliebten CDs, die sie alle schon hundertmal gehört hat. Aber Linda gefallen sie immer besser, je öfter sie sie hört. Kurz wird Denise bewusst, wie sehr sie ihre Tochter liebt, aber sie weiß nicht, weshalb sie dabei fast weinen muss. Sie raucht eine in der Küche und beobachtet den Kühlschrank mit den Magneten. Nichts. Nichts. Wieder nichts. Nichts.
Claudia war auch im Produktionsbüro, nach dem Dreh. Mit Claudia hatte Denise vor Monaten eine erste Lesbenszene gedreht, die sie fast schon wieder vergessen hatte, Badewanne, Umschnalldildo, nichts Hartes, und Geld hatte es auch nicht gegeben, denn es waren Testaufnahmen. Und jetzt waren sie wieder hier und zogen sich um. Claudia sah Denise interesselos an und nickte freundlich, den Körper voller Tattoos, bunt wie ein gefährlicher Schmetterling. Als Claudia dann etwas sagte, war Denise gleich verwirrt vom Ton, den sie anschlug. Oder von der anderen Welt, die sie da umriss.
«Ich studiere jetzt BWL, an der Fernuni.»
«Ja? Toll.»
«Man muss was machen, an die Zukunft denken.»
«Ja, klar. Klappt das denn?»
«Ganz gut. Von nichts kommt nichts, ne?»
«Nein. Ja.»
«Und nur noch ein Jahr, und Tom und ich können uns ein Haus draußen kaufen. Und dann gibt’s Family ohne Ende.»
«Das ist toll.»
«Ach, ist normal. Das wollen doch alle.»
«Stimmt.»
«Und du?»
«Was ich?»
«Wie geht’s dir? Wie geht’s deiner Tochter?»
«Gut. Sie wird bald eingeschult.»
«Ach, so alt schon? Die Zeit fliegt, wa.»
«Tut sie, tut sie.»
«Du, ich muss. Paar Studiengebühren verdienen.»
«Schon klar.»
«Man sieht sich.»
«Bis dann.»
Die Unterhaltung hatte Denise im Nachhinein fertiggemacht. In der Straßenbahn kaute sie an ihren Nägeln, aber nur so, dass sie sie zuhause wieder rundschneiden konnte. Claudia studiert also, dachte sie, und sie spart auf ein Eigenheim. Mit Hund, Kind und Begonienzüchtung. Was soll das alles? Sind selbst Pornostars nur noch Spießer inzwischen? Und haben sie damit denn unrecht? Oder war Denise die Einzige, die überall Probleme sah, während sich die anderen, egal wie verrottet ihre Lebenswelten waren, nach und nach alles einrichteten wie ein falsches Puppenhaus und auch noch glücklich damit wurden?
Das dicke Ende kommt noch, dachte sie. Auch für dich, du falscher, aufgetakelter Schmetterling.
Irgendwann klingelt Marc, und Denise hofft, dass er nicht wieder betrunken oder drauf ist, dass er einfach durch die Tür kommt, ganz normal, und seine Tochter in die Arme schließt wie ein richtiger Vater. Marc arbeitet schwarz, renoviert Wohnungen und baut Küchen für die Besserverdienenden im Bekanntenkreis, verdient damit deutlich mehr als Hartz IV, das er dennoch einstreicht. Mitte vierzig, ist er noch immer in den Clubs unterwegs, auch unter der Woche, und reißt dort mit seiner ungehemmten, aufgegeilten Art regelmäßig junge Möchtegernmodels auf. Hager, sehnig, die Haare wegen der Stirnglatze kurzgeschoren, Halbiraner, Lebenskünstler und immer druff, immer guter Laune trotz des ganzen Versagertums. Linda liebt ihren Vater sehr, wofür Denise sie manchmal hasst. Sie hofft, dass Linda irgendwann, vielleicht mit dem Einbruch der Pubertät, verstehen wird, wer hier ihr Leben für sie aufopfert und wer sein Leben einfach weiter abfeiert, als wäre nichts gewesen. Wer hier nur jedes zweite Wochenende bereit ist, mal höchstens einen Gang tiefer zu schalten, um die Tochter nicht allzu sehr zu verwirren.
«Schau dich doch an, du bist am Ende», hat Marc vor einer Woche am Telefon gesagt, und Denise war so wütend geworden, dass sie sich ganz klein machen musste, um ihn nicht als Junkie und Pisser zu beschimpfen. Wenn sie ihn zu stark beschimpfte, konnte es nämlich passieren, dass Marc einfach absagte, sein Vaterwochenende ausfallen ließ. Und dann säße Denise wieder da, alleine mit der Tochter, und könnte gar nichts machen, nur immer wütender und einsamer werden. Also schluckte sie den Zorn hinunter und fragte nur, wie er darauf käme, wie er überhaupt so etwas Unverschämtes sagen könne. Marc entgegnete «du hast es doch selbst gesagt», und Denise schwor sich, ihm niemals wieder etwas von ihren Zuständen zu erzählen.
Aber es schwang noch etwas anderes darin mit, in diesem Schau-dich-doch-an, die genau wörtliche Bedeutung, schau dich doch an, wie du aussiehst , das Altern, das Faltigwerden, die verlorene Jugend, das Sichgehenlassen. Denise hat mit diesem Satz tagelang gekämpft. Sie wünschte sich, Marc wäre tot, oder zumindest nicht der Vater ihres Kindes. Sie erwog, den Kontakt ganz abzubrechen. Sie redeten eh nie direkt miteinander, nur über Telefon und SMS. Wenn er Linda abholen kam, ging es nur um Kleidung und Zahnspange, mehr nicht. Selbst das Amphetamin steckte er Denise, aus jahrelanger Gewohnheit, ohne Worte zu. Und ohne etwas dafür zu verlangen. Ein besonders perfides Schuldeingeständnis.
Marc ist anscheinend nüchtern, vielleicht etwas aufgepeppt, etwas Speed in den Adern, aber das weiß man nicht, er ist schon von Natur aus ein nervöser, schlaksiger Sprücheklopfer, der dennoch die Ruhe weghat und sich überall sofort zurechtfindet. Linda stürmt auf ihn zu und lässt sich mit einem Kiekser in die Höhe heben. Denise hält die Wochenendtasche in der Hand und wartet ab, bis die beiden sich ausführlich begrüßt haben. Dann ist es so weit, sie händigt Marc die Tasche aus, und Linda merkt, dass sie sich jetzt von ihrer Mutter trennen muss, um Zeit mit ihrem Vater verbringen zu können. Sie versteht noch nicht, dass das eine das andere bedingt, dass sie ihre Mutter lassen muss, um beim Vater zu sein. Das Lächeln in ihrem Gesicht ist verschwunden, und sie beginnt, bockig zu werden und sich zu sperren. Ein Minidrama, das jedes zweite Wochenende durchgespielt wird. Denise gibt Linda einen Kuss und sagt, es ist wie immer, Schatz, am Sonntag bist du wieder bei mir. Sie weiß, dass sich dann das gleiche Drama abspielen wird, nur mit vertauschten Rollen. Wieso lernen Kinder nur so langsam, denkt sie, und wieso lernt gerade ihr Kind noch langsamer als alle anderen?
Nach dem überstandenen Abschied sitzt Denise vor dem Fernseher, starrt auf ihr Handy, holt den Laptop, geht auf Facebook, geht in den Chat. Tausend Kanäle offen, doch alles schal und nichtig. Sie denkt an Anton, den seltsamen Pennerclown mit Bildung, und hat kurz bessere Laune. Wieso nicht, sagt sie sich, wählt seine Nummer und hofft, dass er nicht nach ihrer Tochter fragen wird. Bevor die Verbindung jedoch zustande kommt, legt Denise wieder auf. Nein, es hat keinen Sinn. Sie braucht nicht noch einen Strauchelnden in ihrem Leben. Der wird noch an ihr zerren, bis sie selbst wieder strauchelt und fällt. Der wird noch ihr Geld nehmen, vom Leibhaftigen, von ihrem Leib, den sie zur Demütigung hingehalten hat. Anton wird ein Fass ohne Boden sein. Es reicht schon jetzt. Er ist liebenswert und hübsch, er hat was, er spricht von anderen Welten, ohne dass sie sich fremd fühlt. Aber sie will kein Risiko mehr eingehen. Und für Sex hat sie andere. Was soll das alles?
Sie löscht seine Nummer.
*
An eine belebte Ecke gestellt, den Verstärker hingewuchtet, Überblick verschafft. Hier steh ich richtig, denkt Anton, ich kann auch anders, und macht sich bereit. Verstärker an, Mikro eingestöpselt, Pose einnehmen. Die Pose ist das Wichtigste. Ohne Pose ist alles umsonst. Im Anzug kriegt er sie formidabel hin, testet sie an, das Mikro von sich weghaltend wie Howard Carpendale. Die Haare hat Anton mit billigem Gel zurückgetrimmt. Er steht in einer der Hostel-Mob-Gegenden und sieht nur jüngere Leute. Wie kann das sein, wo sind die Altersgenossen, ist das alles in fünf Jahren passiert? Er wirft den Beat an und tanzt schüchtern los. Die Menschen sehen ihn an und gehen weiter. Pose durchhalten, Rhythmus fühlen. Er hebt das Mikro zum Mund.
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