Zwei Typen wanken heran und legen ihre Sachen aufs Band: Cornflakes, Milch, Butter, Bier und Schinken, alles vom Billigsten. Die beiden sehen nach Bauarbeitern aus Polen aus, aber sie sprechen deutsch und haben keinen Akzent, wenn Denise das richtig hört. Es schiebt und biept, und die Typen stehen vor ihr und starren sie an. Das heißt, einer starrt sie an und blickt zu seinem Kompagnon, als wollte er ihm irgendetwas sagen. Und ja, dann tuschelt er ihm auch etwas zu, und der andere tuschelt zurück, während Denise versucht, es zu ignorieren, die beiden nicht anzusehen. Aber sie kann das Grinsen hören. Mein Verfolgungswahn, denkt sie, es ist nichts, nur in meinem Kopf, und nennt ihnen den Endbetrag. Der eine winkt ab, als der andere einen Fünfer beisteuern will, und gibt ihr fünfzehn Euro. Dann beugt er sich vor.
«Der Rest ist für dich, Nadine.» Seine Augen sind ganz nah, geplatzte Äderchen darin. Sie verziehen sich zu mongolischen Strichen, als er in ein heiseres Kichern ausbricht. «Du kannst es doch gebrauchen, oder?»
Jetzt stimmt auch der andere Typ in das Gelächter ein, während der erste seine Zunge obszön heraus und in die Höhe streckt und mit der Hand Masturbationsbewegungen vollführt. Denise kann sich nicht bewegen, nichts sagen. Sie ist in Starre gefangen. Die beiden Typen packen sich ihre Tüte und nicken grinsend. Der zweite zwinkert Denise zu und sagt: «Bis später, Baby.» Dann stöhnt er kurz und innig. Die beiden gehen los, lachend, murmelnd, schnatternd. Ihr Geschnatter ist noch kurz zu hören, dann sind sie aus der Tür, in die Sonne verschwunden.
Denise zittert. Sie beobachtet ihre Hände auf der Kassentastatur. Unkontrollierbare Stümpfe mit fremden Auswüchsen sind das. Ihre Stirn ist nass, ihr Rücken brennt. Und dort kommen schon die nächsten Kunden, zwei Rentner, um die Ecke. Bleibt stehen, denkt Denise, ich kann nicht. Bleibt stehen oder sterbt, bitte. Die Rentner marschieren auf sie zu, die Eintopfdosen ordentlich im Einkaufswagen gestapelt. Denise sieht sie, sie laden behände ihre Waren aufs Band, schon fahren die Dosentürme auf sie zu. Sie kann sich nicht bewegen. Die Rentner sagen etwas, nennen Denise «Mädchen» und sorgen sich.
«Schon okay», sagt Denise, ihre Starre durchbrechend, und zieht die Dosen über den Scanner, eine nach der anderen, ohne die doppelten und dreifachen zu beachten. Als alles durch ist, kann sie wieder reden und nennt den Endbetrag. Die alte Frau sieht sie milde und mit feuchten Augen an. Ihr Mann zahlt.
Schon okay, denkt Denise. Und: scheißegal. Bitte.
*
Letzte Akte. Der Gerichtstermin ist in drei Tagen. Anton hat sich eine gewisse Lässigkeit zugelegt, eine Schicksalsergebenheit, die ihn immer unberührbarer macht, je näher der Termin rückt. Alles scheint egal, immer egaler, je mehr Mahnungen und Vollstreckungsbescheide eintrudeln, je enger sich die stoischen Hände der Gerichte und die prolligen Krallen der Inkassounternehmen um seinen Hals legen. Und bald zudrücken. Immer wieder zudrücken. Bald endgültig. Das alles ist gar nicht fassbar, es ist nicht da, die Sonne scheint weiter über Gerechte und Ungerechte, Tote und Lebendige, alles macht weiter, und so wird auch er einfach weiter ruiniert, wobei nichts davon sichtbar ist, keine Einschusslöcher, keine Verletzungen, nichts. Nur das Konto ist leer. Und wird leerer. Obwohl das gar nicht geht.
Schon erkennen sie ihn wieder, wenn er an der Ecke steht, durch die Bars und Kneipen zieht. Die Szenegröße, der schräge Vogel, da ist er wieder: Die Aufmerksamkeitsökonomie ist ganz auf seiner Seite, aber mehr Ökonomie ist nicht, denn er kann sich nicht einmal einen Kasten Bier oder ein Mikrophon davon kaufen. Und er will es auch nicht. Dennoch singt er, gestern Abend und heute Abend, während er merkt, wie die eigenen Zeilen, die doch eine Notlage ausdrücken sollen, immer weniger und bald schon nichts mehr bedeuten.
Manche erinnern sich an ihn, wie er aufgekratzt und besoffen durch die Bars zog und die Leute nervte, bis hin zur Prügelei. Sie sehen einen weiteren Fall in ihm, mehr nicht. Den gibt es nicht mehr lange, also können wir ihn noch mal lassen. Ein Barkeeper mit Krawatte wirft die CD ein, und Anton legt dazu seinen Playbackauftritt hin. Die Leute feiern oder verhöhnen ihn — es ist nicht genau auseinanderzuhalten. Er geht mit der Grazie eines Dandys und einem geliehenen Hut durch die Reihen und bekommt hier und da etwas Münzgeld. Es sagt ihm alles nichts, aber er beendet den Auftritt mit Grandezza. Ein Typ, der von sich behauptet, Journalist zu sein, bittet Anton um seine Nummer. Anton gibt sie ihm. Der Journalist sagt, er werde sich melden, das könne ein ziemliches Ding werden, und Anton weiß nicht, ob der Typ nun seinen Artikel oder wirklich ihn selbst meint. Männer nicken ihm zu und machen zustimmende Gesten wie bei Facebook. Frauen lächeln ihn an und scheinen interessiert. Und Anton weiß nicht einmal, woran.
Schließlich kommt er am Abend in der Asozialenkneipe, wo sie ihn noch nie mochten, wieder zu sich. Er hat knapp fünfzig Euro verdient, davon schon zwei Currywürste gegessen und sich Zigaretten gekauft. Einen Zehner kann er jetzt getrost versaufen, zumal bei dem guten Preis von zwei Euro für den halben Liter. Manche erkennt er wieder, und sie ihn auch. Da ist der Elektriker, der immer vor seinem Weizen sitzt und Trübsal bläst. Da ist der Klempner, der jetzt Trödler ist und Anton einmal für fünfzig Euro einen lausigen Küchentisch samt Kneipenstühlen verschacherte. Da ist der Taxifahrer ohne Zähne. Das ist der zutätowierte Typ aus Altona, den sie den Fischkopp nennen. Alles wie immer, nur alle älter. Die Tresenkraft, eine junge Italienerin, die Anton noch nie über den Weg traute, erkennt ihn und stelzt auf ihn zu.
«Du hast hier Hausverbot, weißt du das?»
«Echt? Aber das ist doch schon so lange her.»
«Ja.»
Pause.
«Aber du scheinst ja wieder normal zu sein.»
«Wie man es sieht.»
«Also, was willste.»
Nach anderthalb Bieren entkrampft sich seine Wahrnehmung, und sein Gemüt hellt auf. Es ist ja nicht so, dass er gar nichts trinken dürfte. Das hat der Arzt nicht gesagt. Und sowieso, wer hört schon auf Ärzte. Anton wird wieder gesprächig. Unter der skeptischen Beobachtung der Italienerin redet er kurz mit seinem Thekennachbarn, der ihm erklärt, dass das Olympiastadion gar nicht von Hitler gebaut wurde. Nicht? Nein. Das sei nur Ausdruck der Zeit gewesen, Monumentalarchitektur. Und das Drehbuch des Krieges, das sei schon geschrieben gewesen, da hätte der Hitler noch versucht, Bilder zu malen. Aha. So hatte Anton das noch gar nicht gesehen.
Er weiß, dass diese Leute ihn nicht mögen, und er mag sie ebenfalls nicht. Doch der Clou ist: Sie mögen auch einander nicht. So steht alles in einem Gleichgewicht der gegenseitigen Verachtung. Und dennoch steht Anton noch weiter außen vor als die anderen. Er, der unter den Bürgerlichen der Prolet ist, ist hier der Bürgerliche. Und der Durchgeknallte. Und der Spion. Und er weiß, dass kein normales Gespräch möglich ist. Denn die sogenannten einfachen Leute, die es gibt, stoßen ihn, machen sie den Mund auf, so brutal vor den Kopf, dass ihm das Wort im Halse stecken bleibt. Die Proleten hassen Anton, schon allein wegen seines Aussehens, wegen seines Auftretens, das er mit sich führt, weil es ihn geformt hat. Sie rotzen und rülpsen ihm ins Gesicht, bevor er mit ihnen ins Gespräch kommen kann. Das ist die bittere Wahrheit. Er kann nicht mit den Menschen reden, nicht mit den oberen, nicht mit den unteren.
Fünf Stunden später aber ist Anton sturzbetrunken, Wodka, Biere und ein Gesöff namens Orgasmus haben ihn völlig enthemmt, und er fühlt sich wohl dabei. Eine alte, nicht ältere, sondern wirklich alte Dame will mit ihm ins Gespräch kommen. Er lallt zurück, was ihm einfällt. Die Dame rückt ihren Ausschnitt zurecht, in dem zerknittertes Fleisch zum Vorschein kommt. Von rechts redet ein Typ ihnen dazwischen, was er denn mit der Friedhofsmuschi wolle. Anton sagt «so geht das nicht, du nennst sie nicht Friedhofsmuschi», was wiederum die Italienerin mit halbem Ohr mitbekommt und Anton maßregelt: «Noch einmal so ein Ausdruck, Anton, und du bist draußen.»
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