Was freilich bei unserem Stammitaliener nicht geschehen mußte. Ich nippte ganz sorgenfrei an meinem Glas und drehte dann wieder meine Gabel durch das Nudelwerk. Simon setzte noch einige Striche und rätselhafte Piktogramme aufs Papier und kehrte dazu zurück, in Chaplinscher Manier eine Nudel nach der anderen einzusaugen.
Während wir aßen, läutete mein Handy. Es war Kerstin, die wissen wollte, ob wir uns nicht in der Staatsgalerie treffen könnten, die an diesem Tag bis acht Uhr am Abend geöffnet hatte. Kerstin sagte:»Es gibt dort eine Skulptur von Picasso, die ich nur von Abbildungen kenne und schon lange mal sehen wollte.«
«Du magst Picasso?«fragte ich.
«Warum überrascht dich das? Paßt das nicht zu mir?«
Nun, ich war tatsächlich etwas erstaunt. Wenn schon Kunst, dann hätte ich eher gedacht, sie würde so ein zeitgenössisch-flippiges Damien-Hirst-Zeug mögen: in Alkohol eingelegte Haie. Beinahe hätte ich gesagt:»Bist du nicht etwas zu jung für Picasso?«
Na, das hätte ich mich selbst fragen können.
Aber es war in Wirklichkeit etwas ganz anderes, was mich beschäftigte und was ich nun auch aussprach:»Bist du denn schon fertig mit deinem Freund?«
«Es ist jetzt kurz nach zwei«, sagte sie.»Also, wenn wir uns um sechs im Museum treffen, habe ich ja noch ein paar Stunden. Das paßt auch für mehr als einen raschen Fick. Mach dir keine Sorgen um mich.«
Einen Moment war ich erstarrt. Mein Mund offen wie bei einem toten Fisch.
Sie fragte:»Warum schnaufst du so laut?«
«Ich …«
«Komm, laß dich nicht ärgern von mir. Es ist eine Freundin, mit der ich zusammen bin. — Aber ich mag es, wenn du eifersüchtig bist. Ehrlich! Das ist süß.«
«Picasso also!«fand ich meine Sprache wieder.»Picasso um sechs.«
«Genau. Ich liebe dich.«
Sie legte auf, bevor ich reagieren konnte. Es war das erste Mal, daß sie in dieser definitiven Weise von Liebe gesprochen hatte.
Ja, ich liebte sie auch. Ein Lächeln strich über mein Gesicht wie bei einer Eklipse. Es war also nicht mein eigenes Lächeln, sondern das von jemand anderen: das Lächeln eines Monds.
Um sechs stand ich vor Picassos Badenden, einer Gruppe überlebensgroßer schlanker Stelen, die auf einem Kiesbett plaziert waren. In meinen Augen erinnerten die Badenden eher an ein kleines Orchester, das ein letztes Mal innehielt, bevor es ins Wasser ging. Ich dachte an diese Musiker aus Titanic.
Simon befand sich bereits einen Raum weiter und stand gebannt vor einem Mädchentorso aus rotem Stein, einem Mädchen mit sehr schlanker Taille und vollen runden Brüsten mit geradezu unnatürlich großen Brustwarzen, was auf der dazugehörigen Erklärungstafel verschämt als» plastische Akzentuierung der Teilformen «beschrieben wurde.
Mir war nicht ganz wohl dabei, wie nahe Simon an der Figur stand. Und auch der Museumswärter war herangetreten und beobachtete den Jungen, wie um rasch eingreifen zu können, für den Fall, daß er …
Ja, was? Nach den Brüsten griff?
Ich rief nach ihm. Aber er rührte sich nicht, bloß der Wärter sah zu mir herüber. Nicht unfreundlich, eher besorgt. Besorgt um das Kind wie um die Plastik.
Das war schon das Besondere an der Kunst, diese beträchtliche Kühnheit. Klar, Nackte gab es auch in Heftchen und auf Titelseiten, aber die dortige Offenheit war eine befangene. Nicht aber in einem Museum, wo die Nacktheit so unverhüllt daherkam wie der Tod. Der tote Christus und pralle Brüste in einem Raum! Hier war das möglich.
Gerade wollte ich losgehen, um Simon wovon auch immer abzuhalten, als ich eine Hand auf meinem Rücken spürte, Kerstins Hand. Und gleich darauf ihre Stimme an meinem Ohr:»Wenn man hier hereinkommt und dich sieht, könnte man meinen, du gehörst zur Skulptur.«
«Ach!«gab ich von mir.»Schaue ich denn aus wie von Picasso gemalt?«
«Das nicht. Aber doch so, als hätte dich ein anderer Künstler nachträglich dazugestellt. Um den Picasso zu ergänzen.«
«Du meinst, ich bin so eine Art fotorealistische Plastik.«
«Nein, nein, du bist, wie du bist, aber als Kunstwerk. Als Vervollständigung eines Picassos. Eines wirklich schönen Picassos, finde ich.«
«Lieb von dir«, sagte ich, eher ein Kompliment als einen Scherz annehmend.
Kerstin hängte sich in meinen Arm ein, ließ ihren Kopf auf meine Schulter fallen und fragte:»Wo ist Simon?«
«Dort drüben, bei dem Mädchen.«
«Mädchen?«Sie bog den Kopf nach hinten und schaute an meinem Rücken vorbei in den Nebenraum.»Das ist ein Lehmbruck.«
«Was?«
«Die Skulptur. Wilhelm Lehmbruck.«
Ich sagte» Schau mal an!«und fragte sie, was es eigentlich mit ihr und der Kunst auf sich habe, so wie man jemanden fragt, wieso er denn für kleine, weiße Pudel schwärme.
«Unerfüllte Liebe«, sagte Kerstin.
«Wieso?«
«Ich hab versucht, Malerei zu studieren. Aber die wollten mich nicht.«
Ich gab zu bedenken, daß es einigen sehr berühmten Leuten genauso ergangen sei. Daß man die zuerst auch nicht wollte.
«Ja«, meinte Kerstin seufzend,»manche werden mit der Ablehnung stärker. Die meisten aber brechen zusammen. Ich bin zusammengebrochen.«
«Das paßt gar nicht zu dir«, stellte ich fest.
Sie sagte:»Täusch dich nicht, ich habe eine dünne Haut. Nicht viel dünner als der Durchschnitt, aber dünn genug. Wenn man mit einer Mappe voller Zeichnungen durch die Gegend rennt, in die Akademie, in die Galerien, und immer diese mitleidigen Gesichter sieht, das hält man nicht lange aus. Da kommt dann der Moment, da ist man lieber Kellnerin als Künstlerin.«
Ja, was wußte ich eigentlich von ihr? So gut wie nichts. Sie war ja logischerweise nicht als Taipeh-Sekretärin auf die Welt gekommen. Doch ihre Liebe zur Kunst irritierte mich noch immer. Mit einem einzigen Blick einen Lehmbruck zu erkennen. Zugleich machte es mich traurig, daß sie offenkundig aufgegeben hatte. Aber in der Tat schien es das wesentlichste Merkmal der wirklichen Künstler zu sein, einfach nicht aufzuhören . Die Kunst kam vom Weitermachen.
«Was tut der denn da?«fragte Kerstin.
«Simon?«
«Nein, nicht Simon. Der Museumswärter?«
«Nun ja, er scheint aufzupassen. Vielleicht, weil er Angst hat, Simon könnte den Lehmbruck anfassen.«
«Komm, laß uns hingehen.«
Das taten wir. Gleich, als wir neben Simon zu stehen kamen, vollzog der Aufpasser auf seinen Schuhabsätzen eine kleine Drehung und entfernte sich.
Kerstin und ich schauten nun auf Simon hinunter, schauten auf sein Schauen, auf seine gespannte Haltung, wobei sein Blick nicht auf den vollen, glatten Busen gerichtet war, sondern auf das Gesicht der Dargestellten.
Simons Mund öffnete sich. Und es war nun das erste Mal — das wirklich allererste Mal! — , daß Simon etwas von sich gab, das ich auf Anhieb erkannte und verstand. Er sagte:»Lana.«
«Mein Gott«, wandte ich mich so aufgeregt wie flüsternd an Kerstin.»Hat er Lana gesagt?«
«Hundertprozentig«, versicherte Kerstin.»Kein Zweifel. Der Name seiner Mutter.«
«Aber er war erst ein Jahr alt, als sie starb«, erinnerte ich.
«Na, du kannst davon ausgehen, daß seine Pflegemutter ihm von seiner richtigen Mutter erzählt hat, ihm bestimmt auch Fotos gezeigt hat. Das wäre nicht weiter verwunderlich. Natürlich kennt er ihren Namen.«
Ich erwiderte, daß dieses Gesicht hier, dieses Lehmbrucksche Mädchengesicht, in keiner Weise an Lana Senft erinnere.
«Dich nicht«, meinte Kerstin.»Simon schon. Und wer weiß, vielleicht ist es eine bloße Vorstellung von seiner Mutter, die er sich jünger denkt, als sie bei seiner Geburt gewesen ist. Da gibt es einige Möglichkeiten, sich so was zu erklären.«
Wir standen noch eine ganze Weile so da. Simon sprach kein Wort mehr. Ich versuchte seinen Blick zu deuten, etwas wie ein Wiedererkennen, eine Freude oder Trauer zu gewahren. Doch sein Blick wirkte starr, und in seinen Augen spiegelte sich derart das Rötelrot des Steingusses, daß ich nun einen ähnlichen Eindruck hatte, wie ihn kurz zuvor Kerstin mit mir erlebt hatte: wie sehr nämlich Simon Teil des Kunstwerks war, in ihm wie in einem freundlichen Gefängnis steckte.
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