Ich hatte Simon mitgenommen, und er war sichtbar glücklich, Kerstin zu sehen. Ich meinerseits blieb auf Distanz, wollte ihr nicht zeigen, wie sehr ich litt. Das hatte ja Erich bereits versucht, sein Leiden offenbart, was ihm wenig genützt hatte. Leiden macht häßlich, wenn man kein Engel oder kein Hund ist oder nicht von Schiele oder Munch porträtiert wird.
In Ulm wirkte Kerstin abwesend. Sehr blaß und sehr dünn. Sie mußte in diesen zwei Monaten einiges abgenommen haben. Simon hielt ihre Hand, als hätte er die Teile dieser Hand gerade mit Uhu zusammengeklebt und traue sich nun nicht, sie wieder loszulassen. Er hatte bereits begriffen, daß die eigentliche Aufgabe der Kinder darin bestand, die Erwachsenen zu trösten. Auch wenn es umgekehrt sein sollte. Aber selbst wenn man eine schlechte Schulnote bekam, mußte man seinen Eltern begreiflich machen, daß das nicht das Ende der Welt sei.
Wir redeten nicht viel, saßen in einem Café, und jeder nippte an seinem Getränk. Ein paar belanglose Worte über die Arbeit und den Alltag. Kein Wort hingegen über Erich, der jedoch spürbar mit am Tisch saß. Vor allem meinte ich zu erkennen, wie sehr er triumphierte. Wie sehr es ihn befriedigte, ohne den Aufwand von Worten und eines Körpers Kerstin zu beherrschen. Sich in ihrem Kopf festgesetzt zu haben, so daß sie unfrei war. Unfrei, sich von mir auch nur anfassen zu lassen. Als ich es am Schluß dennoch versuchte, sie an der Schulter berührte und ihr einen Kuß auf die Wange gab, meinte ich ein Fossil zu küßen, einen Abdruck. Und zwar einen tiefgekühlten, tiefgekühlt, um zu verhindern, daß irgendeine uralte Seuche ausbrach.
Ulm ging vorbei. Aber die richtige Eiszeit begann erst. Ich durfte kaum hoffen. Eher war zu befürchten, daß Kerstin sich entschied, ins Kloster zu gehen. Sie trauerte wie eine ewige Witwe.
Ich haßte Erich. Und fragte mich, wie man einen Toten ausschalten konnte.
Der Haß hinterließ eine Spur in meinem Gesicht. Meine weiblichen Stammgäste im Bad Berg fragten mich.»Was ist los mit Ihnen, Herr Sixten? Sind Sie krank?«
«Gewissermaßen.«
Eine der Damen erklärte:»Was Sie brauchen, ist nicht Liebeskummer, sondern eine Frau. Ich meine, so blendend, wie Sie aussehen, kann doch der kleine Simon kein Hindernisgrund sein.«
Sie hatte es nicht böse gemeint. Aber so dachten die Leute nun mal.
Die Zeit verging. Wobei ich nicht begriff, daß sie für mich arbeitete, die Zeit. Sowenig es stimmte, daß die Zeit die Wunden heilte, war es aber so, daß mitunter mit der Zeit die Verursacher der Wunden verschwanden. Daß zum Beispiel die Toten das Interesse an den Lebenden verloren, daß jemand wie Erich keine Lust mehr verspürte, ständig als besitzergreifender Geist Kerstin zu umschwirren, täglich durch ihr Hirn zu wandeln und sie zu berühren .
Nicht Kerstin löste sich von Erich, sondern er sich von ihr. Das mochte sie schmerzen, noch mehr als sein Tod, aber es machte sie frei. Nach und nach.
Das alles dauerte ein ganzes Jahr.
Und dann geschah es, daß Kerstin mich aus München anrief und sagte:»Wir wollten doch zu diesem Berg fahren, um deiner Schwester Blumen zu bringen.«
«Gott, Kerstin, es ist lange her, daß wir das ausgemacht haben.«
«Na und? Warst du denn in der Zwischenzeit schon dort?«
«Nein, das nicht …«
«Was spricht dann dagegen? Das eine Jahr? Als ich sieben war, hat mir mein Vater einen Aquarellkasten geschenkt. Und als ich dann siebzehn war, habe ich zu aquarellieren begonnen. Manches dauert. Manches geschieht nie.«
Ich konnte mir Kerstin aquarellierend gar nicht vorstellen. Ich fragte sie:»Willst du malen in den Bergen? Im Ernst?«
«Das wäre doch eine schöne Idee. Ich könnte es Simon beibringen. In der Natur malen ist zwar ein bißchen von gestern: Romantik, Biedermeier, Volkshochschule — aber es macht Spaß! Könntest du auch versuchen.«
Die Malerei war sowenig meine Sache wie das Klettern, das ich im vergangenen Jahr zwar betrieben hatte, ohne aber meine Angst verloren zu haben. Obgleich meine Technik sich etwas verbessert hatte, scheiterte ich fortgesetzt an jenen Stellen, die mir bedrohlich erschienen. Ich nannte sie die Im-Anblick-des-Tigers-Passagen. Immerhin hatte ich mir angewöhnt, im Seil zu hängen und mir die Tigerpassagen mehr anzusehen, als sie zu klettern. Der Umstand, daß in diesen Momenten der Knoten sich noch fester schloß, gab mir Sicherheit.
Man kann vielleicht sagen: Ich zählte eher zu den langsamen Kletterern.
Ganz anders Simon, der zwischenzeitlich an Wettbewerben teilnahm und als Wunderkind in der Szene galt. In einem Fachmagazin war er als» junger Mozart unter den Sportkletterern «bezeichnet worden. Das Faktum, daß er noch immer kein einziges allgemeinverständliches Wort sprach, schien eher den Mozartschen Genius zu bestätigen. Es war übrigens weiterhin Mick, der wort- und gestenreich Simon trainierte. Und ihn auch managte, nicht ohne Geschick, und auch ohne den Jungen zu verheizen. Mick war kein Leopold Mozart. Und ich erst recht nicht. Nein, ich hatte wenig damit zu tun, sondern ließ es einfach geschehen. Daß ich selbst hin und wieder kletterte, entsprach eher meiner Sturheit. Wie diese Leute, die seit Jahrzehnten ins Kasino gehen und noch nie etwas gewonnen haben und deren Spielweise allgemein als vertrottelt gilt.
Es war Ende August, als ich Kerstin vom Bahnhof abholte. Simon hatte ich bei der Nachbarin gelassen. Manchmal war mir wichtig zu sehen, wie ich ohne ihn wirkte.
Und da stand Kerstin, mager, aber hübsch mager. Sie wirkte weniger punkig als früher, trug ein geblümtes Sommerkleid und elegante, hohe Sandaletten im rötlichen Ton des Kleids. Der Gurt ihrer Laptoptasche durchschnitt den Rumpf und verlieh ihr die Wirkung eines Musketiers. Ich war etwas erstaunt, als ich die großen Koffer sah, die zwei Bahnbedienstete ihr halfen aus dem Zug zu befördern.
Sie streckte mir die Hand hin, sehr gerade, Abstand wahrend, aber ihr Lächeln war ein freundliches Versprechen.
Sie fragte mich:»Bist du mit jemandem zusammen?«
Stimmt, das hätte ja sein können. Aber ich schüttelte den Kopf.
«Gut. Kann ich bei dir wohnen?«
Ich schaute auf die drei gewaltigen Gepäckstücke und fragte sie, was genau sie plane. Denn im Grunde hatten wir ja bloß besprochen gehabt, das kommende Wochenende zu nutzen, um nach Tirol zu fahren und endlich, mit einjähriger Verspätung, Astris Berg aufzusuchen.
Kerstin sagte:»Ich habe meinen Job gekündigt. Und meine Wohnung in München verkauft. «Und dann, als hänge alles zusammen:»Und Erich hat einen neuen Grabstein bekommen.«
«Wie? Vom Geld, das du für die Wohnung gekriegt hat?«
Sie lachte.»Nein, so schlimm ist es nicht.«
«Soll das heißen, du gehst weg von München?«
«Ich bin schon weg von München«, sagte sie.»Ich bin hier. «Und auf die Koffer weisend:»Das ist mein ganzes Zeug. — Wenn du aber zuwenig Platz in deiner Wohnung hast …«
«Das kommt ein wenig überraschend.«
«Ich weiß. Aber du kannst ja nein sagen, und ich gehe ins Hotel. Ich habe nun ausreichend Geld.«
«Warum? Ich meine, warum jetzt? «
«Weil es jetzt einfach an der Zeit ist. Ich will mich verändern. Und wenn du einverstanden bist, kannst du ein Teil von dieser Veränderung sein. Wenn du nicht magst, dann nicht.«
«So einfach?«
«So einfach«, sagte sie.
Ich hätte sie gerne in den Arm genommen, aber das wäre zu früh gewesen. Der Plan war ja nicht, erneut für eine oder zwei Nächte das Bett zu teilen. Der Plan war, wie Kerstin gesagt hatte, eine» Veränderung«.
Anstatt sie also zu umfangen und zu küssen und ihr meine in diesen zwei Jahren keineswegs verloschene Liebe zu erklären, griff ich nach zweien der Koffer. Kerstin nahm den dritten, und mit dem heftig knatternden Geräusch von sechs Rollen bewegten wir uns über den Bahnsteig jenes Stuttgarter Bahnhofs, den man stückchenweise demontiert hatte, wie bei einer vornehmen alten Dame, der man da und dort eine völlig gesunde Gliedmaße abtrennt und da und dort ein völlig gesundes Organ entnimmt. Aber sie stand noch immer, die alte Dame, gleich einem Lazarett ihrer selbst. (Ich sagte schon, daß mich das Politikum um diesen Bahnhof nicht kümmerte, aber als Bademeister des Bades Berg hatte ich nun mal ein Faible für vornehme alte Damen entwickelt.)
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