Am Abend saßen Kerstin, Simon und ich um den großen Küchentisch und legten ein Puzzle. Simon war ein großer Puzzlefan geworden (bevor er dann ein ebenso großer Fan des Brettspiels Go werden würde). Das Puzzeln war neben dem Klettern die zweite Sache, die er mit enormer Geschwindigkeit und Selbstverständlichkeit zu bewältigen verstand, auch dann, wenn er die Puzzleteile verkehrt herum auflegte, also ohne Bild, sich lediglich an den Formen orientierend. Dabei machte er aber keineswegs einen krankhaften Eindruck. Dennoch war da ein Wort, welches ihn gleich einem Planetenring ständig umkreiste: Asperger. Ein Begriff, der in Mode gekommen war und an viele Stellen gesetzt wurde, wo früher ein Fragezeichen gestanden hatte.
Sosehr Simon also von diesem ringförmigen Allerweltswort umlaufen wurde, puzzelte er am liebsten in Gesellschaft. Er erkannte die Bedeutung der Spiele, das Miteinander oder auch Gegeneinander. Klar, gerade ein Puzzle konnte man gut allein spielen, aber war es dann noch ein Spiel?
Das Aspergerkind Simon wollte nicht allein puzzeln. Zu spielen bedeutete, um ein Lagerfeuer zu sitzen. Das Puzzle loderte so schön.
Es waren Ferien, und Simon durfte länger aufbleiben. Blieb er auch. Doch wie so oft überkam ihn sehr plötzlich die Müdigkeit. Er sprach ein Wort aus, das für Schlafen stand, etwas, das sich wie» Bochs!«anhörte.
«Okay, geh bochsen«, sagte ich und drückte ihm einen Kuß auf die Stirn.
«Boxen?«fragte Kerstin.
«Na ja, vielleicht ist ja der Schlaf auch nur eine Art von Faustkampf, nicht wahr?«
Kerstin brachte Simon ins Bett und las ihm aus einem Buch vor. Wir würden wahrscheinlich nie erfahren, ob er diese Geschichten verstand oder nicht, oder ob eben allein der Akt des Erzählens den nun Neunjährigen beruhigte, weil ja nach dem Lagerfeuer die Glut kommt, das Glimmen. (Bevor dann tief im Schlaf der Fight beginnt.)
Nachdem die Erzählerin zurückgekommen war, schenkte ich Wein in unsere Gläser nach. Wir führten die Gläser zu einer klingenden Kollision und tranken.

«Das Wetter nächstes Wochenende soll ideal sein«, sagte Kerstin.»Ich meine in Tirol, in den Alpen, den Zillertaler Alpen. Wir müssen das nutzen. Erstens muß Simon bald wieder in die Schule. Und außerdem kann es dort oben auch ganz schön häßlich werden. Gewitter, Regen, früher Schnee.«
«Du hast dich informiert«, stellte ich fest.
«Ja, klar. Und vorher kauf ich mir noch gute Schuhe. Wenn man schon nicht schwindelfrei ist, sollte man vermeiden, dort mit Pfennigabsätzen hochzumarschieren, gell!«
Sie erzählte mir, was sie über den Berg und den Weg zum Berg gelesen hatte. Auch über den Tod Astris. Zudem sei sie im Netz auf einige Fotos meiner Schwester gestoßen. Kerstin sagte:»Im ersten Moment denkt man, daß sie dir gar nicht ähnlich sieht. Aber Simon, ja Simon, der sieht deiner Schwester ähnlich, finde ich. Während er aber wiederum — da hat die Freundin von deinem Kletterlehrer schon recht gehabt — auch was von dir hat. Vor allem die Augen, trotz des Unterschieds in der Form.«
«Meine Güte, Kerstin, du weißt doch gut, daß das esoterischer Schwachsinn ist.«
«Vielleicht. Aber wenn ohnehin der Schwachsinn die Welt regiert, in der Politik, in der Liebe, dann darf es ja auch mal ein romantischer Schwachsinn sein, oder? Einer, der uns verbindet.«
Ich gestand nun, schon mehrmals eine Ähnlichkeit zwischen ihr und Astri festgestellt zu haben.»Wir sind vielleicht alle eine Familie.«
«Dann wäre das jetzt aber Inzucht«, sagte sie, stand auf, setzte sich zu mir und begann mich zu küssen. Sie hörte gar nicht mehr auf.
Das Wort Inzucht war in diesem Moment mein eigener Planetenring.
Am nächsten Tag gingen wir zu dritt Schuhe kaufen. Und zwar in einen dieser Läden, wo der moderne Mensch für das Überleben in der Natur ausgerüstet wird. — Ich weiß, daß man nicht dauernd über den Fortschritt jammern soll. Der Fortschritt macht das Leben ja erst so bequem: Essen, das quasi fix und fertig aus einer hübschen Verpackung rutscht; die ganze Welt im Fenster eines immer noch schneller werdenden Elektronengehirns; Kriege, bei denen man nicht höchstpersönlich jemanden aufschlitzen muß, falls man das nicht möchte. Und irgendwann werden die Theaterkarten sprechen können und einem sagen, wenn man in der falschen Reihe sitzt. — Ist das schlecht? Wer wollte ernsthaft mit dem Mittelalter tauschen? Allein die Sache mit den Klosetts! Aborterker! Wenn darauf die Rede kommt, will keiner tauschen.
Andererseits konnte man sich gerade angesichts heutiger Outdoorprodukte die Frage stellen, inwieweit der Mensch nicht bloß ein Mittel zum Zweck war, ein Transportmittel . Denn obgleich er es ist, der unter eine Lawine gerät, sind es sodann der Lawinenairbag, die Lawinenweste und der Lawinenpiepser, die sich zu bewähren haben, die im eigentlichen Widerstreit mit den Mächten der Natur stehen. Der Piepser lenkt die Hilfskräfte, nicht umgekehrt. Wie ja auch der Schirm den Regen bekämpft und die Hautschutzcreme die Sommersonne.
Klar, immer schon hat der Mensch sich gewappnet, Schuhe getragen, um nicht barfüßig über spitze Steine laufen zu müssen, doch angesichts dieser nicht ganz billigen Trekkingschuhe fragte ich mich allen Ernstes, ob es vielleicht so war, daß all diese Gegenstände bloß den Teil einer gewaltigen Armee darstellten, die im Kampf gegen die Natur sich des Menschen bediente, den Menschen in parasitärer Weise nutzend.
Genau das sagte ich, lachte aber laut auf und meinte:»Früher hätte ich jemandem, der so daherredet, einen Besuch in der Klinik empfohlen.«
«Ach was«, meinte Kerstin,»so verrückt ist das gar nicht. Die meisten Leute überlegen, daß vielleicht alles umgekehrt ist. Warum, denkst du, handelt jeder zweite Film davon, die Welt sei ganz anders, als wir glauben?«
War ich enttäuscht? Enttäuscht, daß Kerstin meine Verrücktheit als bürgerlichen Allgemeinplatz abtat?
Ich griff nach einem Leichtwanderschuh aus beigem Veloursleder, einem Damenschuh, der weniger knallig war und sehr viel besser zu Kerstins Sommerkleid paßte. Doch der Verkäufer riet ab, nachdem er den Schwierigkeitsgrad unserer geplanten Wanderung bewertet hatte. Das weinrote Modell, welches er in der Folge brachte, war aber gleichfalls recht hübsch.
Ich sagte:»Super! Den nehmen wir.«
«Eigentlich suche ich mir in der Regel meine Schuhe selber aus«, erklärte Kerstin.»Oder denkst du, weil ich ein paar Jahre jünger bin, bin ich ein Kind?«
«Gott, nein, ich wollte …«
Ja, was?
Es war mir einfach wichtig, daß Kerstins Hübschheit auch beim Wandern ungebrochen blieb und sie nicht etwa in so einer Robotermontur alles Liebliche einbüßte und zu einer mit einer synthetischen Wolfshaut überzogenen Wandermaschine mutierte. Aber sie hatte natürlich recht, ich war weder ihr Vater noch ihr bezahlter Modeberater.
Um so peinlicher, noch eins draufzusetzen und zu erklären:»Ich hab’s nur gut gemeint. «Genau das eben, was Eltern so gerne sagen. Ich bereute es auch gleich und wollte schon zu einer erneuten Entschuldigung ausholen, als Kerstin meinte, ich hätte ja recht, die Weinroten seien ideal, die könne man später auch auf einer Party tragen.
Offenkundig plante sie nicht, von nun an ständig auf Berge zu marschieren, sondern eben nur auf diesen einen: den Astri-Berg .
Auch Simon und ich benötigten geeignetes Schuhwerk, da wir uns bisher einzig und allein auf künstlichen Bergen bewegt hatten, nicht wandernd, sondern kletternd. Simon bekam flotte Outdoorsandalen sowie ein geschlossenes Paar, während ich selbst mich für einen Wanderhalbschuh entschied, der den Namen» Paris «trug, wobei ich jetzt nicht wußte, ob sich das auf die Stadt oder auf den Typen mit dem Apfel bezog. Jedenfalls gefiel mir der rotbraune Ton, der mit dem Weinrot von Kerstins Modell eine schöne Verbindung einging. Simons schnittige Sandalen erinnerten schon eher an robotische Gestaltwandler, wie man sie aus dem Film Transformers kannte, nur daß sie nun halt nicht mehr als Sportwagen und Trucks herumliefen, sondern sich in weit unauffälligerer Weise unter die Menschen gemischt hatten. Schuhe statt Chevrolets.
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