Er hatte sich das ein jedes Mal in Ruhe angehört, wie da mit Zahlen jongliert wurde, Zahlen, die mit jedem Satz größer und hübscher wurden, gleich prächtigen, heiratsfähigen Kindern — und sodann dankend abgelehnt. Er hatte sich letztendlich wie einer dieser Kleinbauern verhalten, die ihr Land für kein Geld der Welt hergeben wollen und sich einer Straße oder einem Staudamm entgegenstellen.
Freilich, all diese Straßen und Staudämme und Supermärkte werden dann trotzdem gebaut.
War er also ernsthaft in Gefahr? Er fragte sich, ob solche Szenarien nicht eher der Dramaturgie einer Fiktion entsprachen. Romanhaft. Filmreif. — Natürlich, auch wirkliche Menschen wurden umgebracht, ebenjene Kleinbauern. Und selbst Leute in Anzügen kamen hin und wieder unter die Räder. Aber wie weit würde eine Firma gehen, deren freundliche oder auch unfreundliche Angebote nicht fruchteten? L’Oréal, Nestlé und wie sie alle hießen. Waren das wirklich die Mafiabetriebe, als die die Weltverbesserer sie gerne sahen, sich ihr Feindbild mit heftigem Strich ausmalend?
Nun, der Fehler war wohl, sich die Mächtigen der Welt noch immer als» Bosse «zu denken, Bosse, welche mittels einer kleinen, abfälligen Bemerkung quasi ein Todesurteil unterschrieben. Während sie in Wirklichkeit so waren, wie Audens Namenspatron, Wystan Hugh Auden, sie dargestellt hatte:
Hell, bis tief in die Nacht
Sind die Fenster
Der Mächtigen, und dort hocken sie tiefgebeugt
Über irgendeinem
Erschöpfenden Bericht über dies oder das,
Immerzu, wie ein Gott oder eine Krankheit
Auf dieser Welt, die der große Grund ist, aus dem
Sie so müd sind …
Es handelte sich um eine Stelle aus W.H. Audens Gedicht Die Manager . Chens Eltern hatten es ihm oft vorgelesen, wie andere Kinder Gutenachtgeschichten von Bären und Hasen und melancholischen Monstern erzählt bekommen. So war der kleine Chen nicht nur mit der englischen Sprache aufgewachsen, sondern auch mit poetischen Bildern, die fern dem Kindlichen standen. Ja, man konnte sagen, die poetischen Bilder eines schwulen, linken, letztlich auch noch katholischen Pulitzer-Preisträgers hatten Chen durch die Kindheit begleitet und seine Phantasien angeregt. Nicht, daß er alles verstanden hatte. Aber er hatte auch nicht alles von Alice im Wunderland und Horton hört ein Hu! verstanden oder in dem dicken Buch mit den chinesischen Märchen. Nicht alle Geschichten im Leben und im Buch waren so einfach gestrickt wie bei diesen Jungs, die sich Die drei Fragezeichen nannten.
Manche Dinge mußte man erst einmal fühlen und ahnen und riechen und schmecken und sich vor ihnen fürchten, bevor man sie irgendwann begriff.
Wenn er an die Mondlandung der Amerikaner dachte, dann weniger an das berühmt-vertrottelte Gleichnis vom kleinen und vom großen Schritt, sondern vielmehr an W.H. Audens Aussage, daß es sich hierbei um einen» Phallus-Triumph «der» Boys «gehandelt habe und daß»vom Augenblick an, da der erste Stein beschabt wurde, diese Landung nur eine Frage der Zeit war«. — War ein beschabter Stein nicht ein ungleich stärkeres Bild als besagter Fußabdruck im schwarzweißen Staub?
Nach W.H. Auden waren die Mächtigen also müde von der großen Welt, die sie beherrschten.
Freilich, auch müde Menschen unterschrieben Todesurteile. Wenngleich längst nicht mehr auf den Rückseiten von Spielkarten. Heutzutage ging es profaner und pragmatischer zu. Doch diese gewisse Blässe der Mächtigen änderte nichts daran, daß weiterhin unliebsame Menschen aus dem Weg geräumt wurden, auf die eine oder andere Weise. Menschen verschwanden, und was nützte es schon, wenn sie auf Facebook weiterlebten oder sogar einen Wikipediaeintrag gleich einem Grabstein besaßen.
Die alte Französin — nicht gerade die typische Weltverbesserin, aber ziemlich realistisch — hatte Chen einen Floh ins Ohr gesetzt. Es war kein Riesenfloh, aber seine Anwesenheit deutlich spürbar.
Übrigens war Auden Chen in der Tat die einzige Person in seinem Unternehmen, welche die genaue Formel von G 7 kannte. Wobei er die Rezeptur, so kompliziert sie war, tagtäglich memorierte. Ein kleines Gebet, das ihm guttat. Die einzige schriftliche Aufzeichnung der Zusammensetzung — wie auch aller anderen Rezepte des KAI-Programms — hatte er an den Seitenrand einer Erstausgabe von W.H. Audens The Age of Anxiety notiert. Es versteht sich, daß er dieses Büchlein stets bei sich trug und dafür in allen seinen Sakkos Extrataschen hatte einnähen lassen, etwas, was wiederum nur seine beiden engsten Mitarbeiter wußten.
Einige Tage später landete er erneut in Australien, diesmal in Perth. Nach dieser letzten Station seiner Reise wollte er nach Taiwan zurückkehren und Lana aufsuchen, um ein entscheidendes Gespräch zu führen. Er wollte, so gut es ging, einen reinen Tisch schaffen.
Zum Abendessen traf er sich mit einer Gruppe von lokalen Geschäftsleuten, die sich bemühten, eine KAI–Vertretung in Perth zu etablieren. Die Art und Weise, wie diese Leute über G 7 sprachen, zeigte, wie sehr derzeit ein bloßes Gerücht bestand, aber eben auch der Wille, diesem Gerücht — wie die kleine Französin es ausgedrückt hatte — eine feste Form zu verleihen. Nicht etwa das Geheimnis geheimnislos zu machen, sondern einen Mythos in die Welt zu setzen. Vielleicht ähnlich dem, den man von Bachblüten kannte. Medizin vom lieben Gott.
Und welche Medizin könnte göttlicher sein als die, die neues Leben schuf?
Doch Auden fühlte sich erschöpft wie selten noch. Die ganzen letzten Tage schon. Man kann vielleicht sagen, zu dem Floh in seinem Ohr war ein Gewicht in seinem Kopf hinzugekommen.
Gegen elf Uhr bat er, sich zurückziehen zu dürfen. Er werde sich das Angebot der Perth-Leute genau überlegen. Dann fuhr er hoch in sein Hotelzimmer, wo er noch ein kleines Glas Bourbon trank, sich bis auf die Unterhose auszog und aufs Bett warf. Sekunden später war er eingeschlafen.
Er träumte. In diesem Traum war eine riesige Menschenmenge. Und in dieser Menge jemand, der ein Schild hochhielt. Darauf stand ein Wort. Allerdings schwer zu lesen. Was ja eigentlich ein Witz war, unleserliche Plakate schreiben. Wie in diesem Woody-Allen-Film, wo sich alle schwertun, die schriftliche Forderung des Bankräubers zu entziffern.
Auden drängte sich durch die Massen. Endlich war er nahe genug, das eine Wort zu erkennen. Aufwachen! stand da.
Es war wohl die heftige Anstrengung, nämlich die Anstrengung beim Lesen, die ihn tatsächlich aus dem Traum trieb. Er öffnete seine Augen.
Er lag in völliger Dunkelheit. Spürte aber sofort, nicht allein zu sein. Es war eine Bewegung im Raum, eine vorsichtige, eine Katzenbewegung oder, besser gesagt, eine Großkatzenbewegung, die aber auch etwas Schwerfälliges hatte. Ein alter Tiger oder alter Löwe.
Auden vernahm das Geräusch, das sich daraus ergab, daß jemand den Kleiderschrank geöffnet hatte und sich an den Anzügen zu schaffen machte. Mit leisen Pfoten, keine Frage. Aber in tiefer Nacht war auch das Leise ein Lautes.
Auden überlegte, daß es das Sicherste wäre, sich schlafend zu stellen und den Raub vorübergehen zu lassen. Wobei sich natürlich die Frage stellte, worauf der Einbrecher es abgesehen hatte. Geld? Schmuck? Oder geschah jetzt genau das, wovor die alte Französin ihn gewarnt hatte? War er, Auden, verraten worden? Und wurde gerade versucht, an die Rezeptformel zu gelangen, die er in einem Buch versteckt hatte, das Das Zeitalter der Angst hieß?
Wenn er nun das Licht anmachte und den Einbrecher zur Rede stellte …
Meine Güte, konnte man denn Einbrecher zur Rede stellen? Waren Einbrecher Kinder, die man ertappte, wie sie gerade ihre Finger in die Schokocreme tauchten? Aber beim nächsten Mal …
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