Immerhin befand sich Auden Chen in einem ziemlich guten Zustand. Körperlich gesehen. Er konnte Judo, und er konnte boxen. Wobei allerdings die Projektile, die aus Waffen flogen, völlig blind waren für die Nahkampfkünste der Menschen. Niemand war so blind wie eine todbringende Kugel.
Dennoch, die Vorstellung, Das Zeitalter der Angst und damit sämtliche KAI-Rezepte könnten gestohlen werden, führte dazu, daß Auden entschlossen aus dem Bett sprang und mit dem Gewicht seines muskulösen Körpers in Richtung Kleiderschrank stürmte. Dabei prallte er gegen die Tür, welche wiederum auf den dahinter stehenden Körper stieß. Ein Körper, der umfiel.
Auden hingegen war in der Aufrechten geblieben, eilte hinüber zum Fenster und zog den Vorhang zur Seite, hinter dem das leuchtende Perth lag. Im Perthlicht erkannte Auden die Fußtaste einer Stehlampe und betätigte sie. Gleich darauf auch einen Generalschalter, der sämtliche Lichter des Hotelzimmers in Betrieb setzte.
Heller ging es nicht mehr.
Ein Mann lag am Boden, bewegungslos. Neben ihm eine Pistole, deren Lauf die typische Verlängerung eines Schalldämpfers besaß. Daneben eine Taschenlampe, deren Lichtstreifen eine ovale Sonne auf den Teppichboden brannte.
Auden wollte zum Telefonhörer greifen. Aber seine Hand schwang am Hörer vorbei und faßte nach der Pistole. Der ersten echten in seinem Leben. Alle anderen waren Spielzeugwaffen gewesen. Und er griff keine Sekunde zu früh. Denn in diesem Moment löste sich der am Boden Liegende aus seiner kurzen Betäubung. Er richtete sich halb auf, kam auf die Beine, hielt sich eine Hand an die Schläfe, blinzelte hinüber zu Auden und erkannte die Waffe in dessen Hand. Er seufzte, tat einen Schritt zurück und ließ sich in die Mitte eines Sofas fallen.

Er wirkte sehr müde. So, wie sich Auden Stunden zuvor noch gefühlt hatte. Nur war dieser Mann hier um einiges älter und sehr viel unförmiger. Ein gealterter James Bond. In seinem schwammigen Gesicht — mit Augenschlitzen so eng, als müßten die Lider ein linsengroßes Ei festklammern — öffnete sich ein kleiner Mund. Der Mann fragte:»Können Sie mit so einer Waffe überhaupt umgehen?«
«Ich weiß nicht«, sagte Auden.»Ich denke, man drückt einfach ab.«
Genau das tat er auch.
Ja, ein Schuß fiel. Nicht mit Absicht, natürlich nicht. Sondern so, wie wenn man jemanden bittet, still zu sein, und, während man das sagt, sich automatisch den Finger an die Lippen legt.
Indem er vom Abdrücken sprach, drückte er ab.
Glücklicherweise war der Lauf nicht gegen das besetzte Sofa, sondern gegen den unbesetzten Polstersessel gerichtet gewesen, so daß die Kugel, die mit einem Flupp! den Schalldämpfer verließ, mit einem ganz ähnlichen Flupp! in die Rückenlehne des Möbels eindrang und ausdrang und auch noch die dahinter liegende Wand perforierte. Hätte dort eine Person gesessen, sie hätte nun auf Brusthöhe einen Tunnel gehabt.
«Zum Teufel! Vorsicht!«rief der Mann, dem diese Waffe eigentlich gehörte.
«Verzeihung«, sagte Auden und lachte in der Art des Fassungslosen. Fassungslos worüber? Daß er geschossen hatte? Oder daß er sich dafür entschuldigte?
Auden trat nun einen Schritt hinüber zum Kleiderschrank, um rasch festzustellen, daß das Buch fehlte, welches er bei sich auch gerne das» Angstbüchlein «nannte.
«Her damit!«verlangte er.
«Und wenn nicht?«
Auden legte die Waffe aufs Bett und näherte sich dem Mann auf dem Sofa. Dieser hob die Arme leicht an und sagte:»Sie brauchen mich nicht zu schlagen.«
«So weit wollte ich gar nicht gehen«, äußerte Auden.
Der andere griff sich in die Jackentasche, zog das Buch hervor und händigte es aus. Wobei er erklärte:»Das nützt Ihnen auch nichts. Oder denken Sie, die geben auf?«
«Wer sind die ?«
«Das wissen Sie nicht?«staunte der Mann.»Also, wenn Sie es nicht wissen … Sie sollten Ihre Gegner kennen.«
«Und Sie sollten Ihre Auftraggeber kennen.«
«Ich bitte Sie, darin besteht doch der Sinn, daß ich keine Ahnung habe, wer das ist. Und einfach tue, wofür ich bezahlt werde.«
«Was Ihnen schön mißlungen ist«, stellte Auden fest.
Der Mann senkte den Kopf und meinte bedauernd:»Absolut.«
Dann hob er den Kopf wieder an und sagte:»Wenn ich das hier versaue, werden die jemand anderen engagieren. Jemanden, der jünger und schneller und brutaler ist. Dessen Herz viel kleiner ist als meines.«
In der Tat wunderte sich Auden, daß, wer auch immer» die «waren, einen so alten Typen geschickt hatten. Aber wer weiß, vielleicht hatte dieser» alte Typ «einen guten Namen und war in dieser speziellen Situation weniger ungeschickt als glücklos gewesen. (Relativ glücklos, denn immerhin muß gesagt werden, daß er das laienhafte Abfeuern einer Kugel überlebt hatte.)
Jedenfalls meinte der Mann auf dem Sofa nun:»Es wäre wirklich besser, wir zwei würden ins Geschäft kommen.«
«Besser für wen?«
«Für uns beide.«
«Inwiefern?«
«Sie geben mir das Büchlein, und ich lasse Sie entkommen. Dann hätte ich zwar nur den halben Auftrag erfüllt, aber …«
«Wieso entkommen lassen?«fragte Auden und bewegte sich wieder dorthin, wo die Waffe lag.
«Denken Sie denn, es war daran gedacht, daß Sie diese Nacht überleben?«
«Das ist ein Scherz, nicht wahr?«meinte Auden.»Sie sind doch kein Killer. Bücher klauen ja, eine Waffe dabei, na gut, sicherheitshalber — aber doch kein Killer.«
«Nein, ich bin kein Killer. Aber wenn es der Auftrag erfordert, schalte ich Leute aus. Ungerne. Aber leider kann ich mir nicht aussuchen, wie genau ein Auftrag beschaffen ist. So frei bin ich nicht. Nur, weil man freischaffend ist, bestimmt man nicht eben den Gang der Dinge.«
Doch Auden blieb ungläubig.»Daß jemand an die Formel will, das kann ich verstehen. Mich aber töten?«
«Wären Sie jetzt tot, würden Sie mir glauben«, sagte der Mann. Und fügte an:»Nun, nachdem das heute schiefgegangen ist und Sie gewarnt sind, könnte man noch auf die Idee kommen, sich eine Person aus Ihrer Familie vorzunehmen. Haben Sie Kinder?«
Schon wieder wurde ihm diese Frage gestellt. Und wieder sagte er» Nein«, obgleich das nicht wirklich der Wahrheit entsprach.
«Gut für Sie«, meinte der müde Mann.»Die schwächste Stelle eines Menschen ist sein eigenes Kind. Kein Wunder, daß so selten die Ehefrauen der Reichen entführt werden und so oft deren Nachwuchs.«
«Verschonen Sie mich«, sagte Auden.
«Womit? Mit der Wahrheit?«
«Gehen Sie einfach.«
Der Mann stand auf. Es sah aus, als hätte er seit dem Mittelalter auf diesem Sofa gesessen. Man konnte seine Knochen hören. Den Klang einer alten Rüstung. Aus dem metallenen Mund dieses Manns drang nun ein letzter Versuch:»Geben Sie mir das Buch. Ich werde denen erzählen, ich hätte mich dagegen entschieden, es wie einen Selbstmord aussehen zu lassen, und Sie statt dessen im Meer versenkt. Wenn Sie richtig verschwinden, für immer, kann ich das tun. Das ist der kleine Spielraum, den ich habe.«
«Seit wann benutzen Leute, die sich umbringen wollen, einen Schalldämpfer?«zeigte Auden, daß er mitdachte.
«Keine Angst, den hätte ich vorher abgeschraubt. «Und dann sagte der Mann:»Kaum zu glauben, daß Sie in so einem Moment den Klugscheißer geben.«
Wobei Auden sogar noch eine weitere Spitzfindigkeit auf der Zunge lag, nämlich anzumerken, daß es doch wohl sinnvoll gewesen wäre, als erstes ihn, Auden, zu erschießen und erst danach im Kleiderschrank nach dem Buch zu suchen. Freilich hätte man ihm entgegnen können, daß eine Tötung sich immer erst dann anbot, wenn das Objekt, um das es ging, auch gefunden war. In diesem Fall das Angstbuch mit den KAI-Rezepten. Und noch was: Wäre er, Auden, auch nur Sekunden später — getrieben von einem unleserlichen Schriftzug in seinem Traum — erwacht, dann wäre alles seinen geplanten Weg gegangen. Und er wäre jetzt tot und bräuchte nicht zu zweifeln.
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