Sie taten, als hätten sie ihr einziges Kind verloren.
Zwischen ihnen und mir hatte nie eine Beziehung bestanden, die dieses Wort verdient hätte. Zu keiner Zeit. Ich war als Kind auch nur ein» Garten vor dem Haus «gewesen, den man an Schläuche hängt und dem man die Windeln wechselt. Keine Frage, ich war niemals vernachlässigt worden, in einem körperlichen Sinn. Ich war immer ordentlich gegossen worden. Meine Geschenke waren nicht kleiner gewesen, meine Kleidung nicht billiger. Aber ich hatte stets die Kälte empfunden, mit der Vater wie Mutter mich behandelten, ganz gleich, wie gut die Noten waren, die ich nach Hause brachte. Gleich, wie bemüht die Zeichnungen waren, die ich zu ihren Geburtstagen anfertigte. Wenn man sich freilich diese Zeichnungen ansah, erkannte man in ihnen die gleiche Kälte: sehr sauber, sehr brav, sehr gleichgültig.
Ich hatte nie etwas anderes für die beiden empfunden als jenes dumpfe Gefühl, etwas würde nicht stimmen. Durchaus in der Art, wie Kinder überlegen, bei der Geburt vertauscht worden zu sein. Und daß darum die Fremdheit zwischen ihnen und ihren Eltern — und in der Folge die Abneigung — eine im Grunde natürliche ist.
Ganz anders bei Astri. Sie hatte mit den Eltern eine Einheit gebildet, eine Dreiheit, auch und gerade mittels der ständigen Abenteuereien, der Mutproben und Wagnisse, die sie von klein an gepflegt hatte. Sie war nie ein braves Kind gewesen. Der experimentelle Typ. Aber nicht asozial. Keine, die Katzen von Brücken warf. Eher sprang sie selbst von Brücken, um zu sehen, was passierte. Die Mutter war viel in Sorge um ihre Tochter gewesen, der Vater oft nachgiebig, zudem stolz. Selbst ein begeisterter Kletterer — gleichwohl kein» Genie am Berg«—, hatte er große Genugtuung empfunden, als die erst Achtjährige ihn überflügelte. Und eben nicht nur ihn. Er sagte einmal:»Astri klettert, als sei das der Lebensraum, für den sie eigentlich geboren wurde.«
Das stimmte. Auf ebener Erde hingegen wirkte ihr Gang unsicher. Unsicher und unglücklich.
Als ich meinen ersten wirklich gut dotierten Vertrag erhielt und in der nagelneuen Limousine und im maßgeschneiderten Anzug vorfuhr, erkannte ich den abfälligen Blick meines Vaters. Für meine Mutter war es okay, weil meine finanzielle Absicherung sie beruhigte. Anders gesagt: Es war ihr lieber, ihr Sohn war Manager, als Junkie oder Hungerkünstler. Bei Vater aber war das anders. Nicht, daß er Junkies mochte, aber für ihn waren das die harmloseren Kriminellen.
Sein abfälliger Blick würde ewig auf mir kleben bleiben. So wie auf Astri sein liebevoll stolzer. Gleich, wie lange ich lebte, und gleich, wie lange sie schon tot war.
Astri war übrigens nicht nur eine Meisterin im Klettern, sondern auch im Fallen. Zwei Stürze vom Motorrad überstand sie ohne Kratzer, wie auch Stürze aus der Wand und beim Skifahren. Sie war sogar einer Lawine entgangen. Nur gegen diesen einen Blitz hatte sie nichts ausrichten können.
Ich stellte mir immer wieder vor, wie zornig meine Eltern die Vorstellung machen mußte, daß im Zuge des einen Unwetters, der einen elektrischen Entladung, das eine geliebte Kind gestorben war, während das andere unter den Umständen einer ebensolchen Naturgewalt überlebt hatte. Das falsche Kind.
Solche Dinge spricht man nicht aus, natürlich. Gedacht werden sie dennoch.
Wobei ich Astri nie beneidet hatte, nie auf sie eifersüchtig gewesen war.
Fragt sich allerdings, wie ich mein Bedürfnis nach Liebe gesättigt hatte. Denn ein solches besteht ja in der Regel. Ich war schließlich nicht als kleiner Roboter auf die Welt gekommen. — In der Tat war da jemand gewesen, dem ich in den Jahren meiner Kindheit mit Zuneigung begegnet war, so wie er mir. Ein Nachbar, der im letzten Stock wohnte und von dessen Wohnung aus Köln aussah, als würde es nur aus den Dachkammern armer Poeten bestehen. Ein Spitzweg-Köln. Wie auch der Bewohner dieser aussichtsreichen Wohnung ein Spitzweg-Mann gewesen war: ältlich, mit Brille, sehr hager, sehr lang. Ein warmherziger Mensch, zudem vornehm und würdevoll, auf eine leicht komische, aber nicht peinliche Weise. Peinlich waren die Leute im Fernsehen, nicht dieser Mann. Weil ich mir aber seinen richtigen Namen nicht merken konnte, polnisch oder russisch oder so, und weil mir sein Gesicht ob der Entfernung immer so klein erschien und ich zudem von einigen Indianergeschichten inspiriert war, nannte ich ihn bei mir Little Face .
Bei ihm fühlte ich mich wohl. Mehr als bei den Kölner Großeltern, die sich zwar nicht ganz so lieblos wie meine Eltern verhielten, sich aber vor allem dadurch auszeichneten, keine Zeit zu haben. Selbst meine Eltern schienen im Vergleich dazu unterbeschäftigt.
Meine Großeltern waren Leute von der Sorte, die immer nur Hilfe zur Selbsthilfe betrieben. Die also einem Ertrinkenden weder die Hand reichten noch zu ihm ins Wasser sprangen, sondern dem armen Kerl im raschen Vorbeigehen zuriefen:»Schwimmen Sie!«In ihren besten Momenten machten sie noch schnell Vorschläge über die geeignete Art, sich über Wasser zu halten.
Ganz anders Little Face. Er hatte immer Zeit, und er war immer zu Hause. Wenn ich bei ihm anläutete, öffnete er und bat mich mit einer großzügigen Geste einzutreten. Er war wohl das, was man» alte Schule «nennt. In seiner mit Büchern und Bildern, mit Präparaten und Stößen von Zeitschriften vollgeräumten Wohnung, in der selbst die Bildschirme zweier Computer aussahen, als stammten sie aus dem neunzehnten Jahrhundert, herrschte stets ein Zwielicht. Und stets überfiel mich eine angenehme Müdigkeit, wenn ich in einen der tiefen Polstersessel glitt und Little Face begann, mir zu erzählen, womit er gerade beschäftigt war. Wobei er, glaube ich, überhaupt keine Rücksicht auf mein Alter nahm. Er sprach mit mir, als wäre ich ein Erwachsener. Und zwar ein gebildeter. Was dazu führte, daß ich nur wenig von dem verstand, was er mir darlegte. Aber es klang einfach gut: geheimnisvoll und wesentlich. Als wären dagegen die Dinge, die zwei Stockwerke darunter meine Eltern und den Rest der Menschheit beschäftigten, völlig unwichtig. Als würde alles Fundamentale allein im Kopf dieses Mannes kreisen, Mikrokosmos und Makrokosmos, die sichtbaren Gewänder des Normalen und die unsichtbaren des Paranormalen.
Als ich einmal fragte, was denn eigentlich sein Beruf sei, sagte er:»Allesforscher.«
«Was ist das?«
«Wonach klingt es?«fragte er zurück.
«Hm, also entweder erforschen Sie etwas, daß das Alles ist, oder Sie erforschen alles .«
Er lächelte mich an. Aus der Ferne seines Gesichts fiel dieses Lächeln wie ein Segen auf mich herunter. Offensichtlich gefiel ihm meine Antwort. Aber er ließ sie unkommentiert. Und ich kann sagen, daß es mir noch einiges Kopfzerbrechen bereitete, mir eine Sache vorzustellen, die man als das Alles bezeichnen konnte. Während natürlich viel einfacher war, sich schlichterdings einen Universalgelehrten zu denken, für den kein Wissensgebiet unwichtiger war als ein anderes und der mit dem gleichen Interesse ein Mickymaus Heft studierte wie eins dieser Bücher, die man als» schwer «bezeichnete, damit aber nicht ihr Gewicht meinte.
Sämtliche Dinge zu erforschen war sicher anstrengend genug, aber wie kompliziert mußte es erst sein, etwas zu entdecken, in dem sich alles zu einem Alles vereinte. (Viele Jahre später stieß ich auf den Begriff der» Weltformel«. Ich stellte mir gerne vor, daß das, woran Little Face geforscht hatte, etwas Ähnliches gewesen war. Und ich stellte mir mindestens so gerne vor, daß es ihm gelungen war zu entdecken, wonach er so lange gesucht hatte.)
Meine Eltern freilich meinten, der Mann sei einfach ein Spinner. Wobei sie ihn aber wohl für harmlos hielten. Hätten sie denn ansonsten erlaubt, daß ich ihn besuchte? (Ich will jetzt nicht so weit gehen zu sagen, es wäre ihnen gleichgültig gewesen, ob der Mann, bei dem ihr Erstgeborener seine Zeit zubrachte, gefährlich war oder nicht.)
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