Die Menschen sind Tiere.
Das ist hier aber nicht gemeint als Hinweis auf die oft besungene Bestialität des Homo sapiens, die ja nicht selten über das Tierische hinausweist, sehr viel verspielter anmutet, sehr viel weniger zweckgebunden ist: ein kunstvoll rabiates Verspieltsein. Der Begriff Kampfkunst trifft es ziemlich gut. Das gilt selbst noch für Tobsuchtsanfälle.
Aber ich meine etwas anderes. Ich meine unsere Abhängigkeit davon, was wir als normal empfinden, als naturgegeben. Wie sehr uns die Abweichung schreckt oder irritiert oder wütend macht und dabei unseren Instinkt beleidigt. Sobald die Norm durchbrochen wird, sind wir ganz Tier.
Mir war das früher nie so klar gewesen. Sehr wohl aber von dem Moment an, da ich für alle sichtbar mit diesem einen Kind zusammen war, es an meiner Hand führte, in behütender Weise den Jungen an der Schulter faßte, ihn zur Begrüßung in die Arme nahm, tröstete, sorgsam war, mitunter streng, genervt, laut, dann wieder helfend. — Bei alldem war offenkundig, daß Simon nicht zu mir paßte. Simon mit seinem asiatischen Gesichtsbild, während ich selbst durch und durch ein» weißer Mann «war. Was nun für alle, die uns wahrnahmen, ohne uns zu kennen — und wahrgenommen wurden wir weit mehr als andere — , einige Möglichkeiten eröffnete. Eine Adoption war so denkbar wie der Umstand, daß ich hier in beruflicher oder ehrenamtlicher Weise ein Kind fremder Eltern betreute. Vor allem bot sich natürlich an, daß es sich bei meiner Frau, der Mutter dieses Jungen, um eine Chinesin handelte. Das mochte heutzutage nicht mehr als» Perversion «oder» Rassenschande «gelten, empfunden wurde es aber schon so. Der Blick der Menschen signalisierte ihre Verunsicherung, ihren Widerwillen. Alles, was außerhalb der Ordnung steht, tut dies. Manche kochen daraus ihr ideologisches Süppchen, die Rassisten wie auch jene, die den Tabubruch überhöhen. Sosehr die Vermischung der Rassen ein genauso unumstößliches Faktum darstellt wie die Mobilität des neuzeitlichen Menschen, gilt dies gleichermaßen für das Unbehagen darüber. Jeder Blick, der mich und Simon traf, bewies mir das. Auch der freundliche Blick. Ja, der freundliche Blick ganz besonders, der Blick der liberalen Geister, die so was» ganz toll «finden, ein ungleiches Menschenpaar als Veredelung, bloß daß diese Leute im eigenen Falle dann doch lieber herkömmliche Beziehungen pflegen und herkömmliche Musterfamilien bilden.

Der zweite Punkt ergab sich natürlich aus Simons» Behinderung«. Welche nicht sofort erkennbar war. Er bewegte sich normal, gestikulierte in der gewohnten Form, sein Lachen war nicht breiter oder schriller als bei Gleichaltrigen, seine Verstimmungen nicht dunkler oder zerstörerischer. Und wenn er einmal redete, dann führte das Unverständliche seiner Worte zunächst zur Annahme, es entsprechend seiner Augenform mit einer exotischen Sprache zu tun zu haben. Nach und nach aber begriffen die Leute, was es damit auf sich hatte. Und begriffen auch die Unfähigkeit Simons, eine andere Sprache als jene zu erlernen, die er schon beherrschte und die allein ihm gehörte.
Richtig, der Mensch unterscheidet sich von den Tieren nicht nur durch jene Kommunikationsform, die es ihm ermöglicht, in Talkshows aufzutreten, sondern nicht minder durch seinen Umgang mit denen, die behindert sind. Er, der zeitgenössische Mensch, läßt seine Gehandicapten und Eingeschränkten nicht einfach in der Steppe zurück, läßt sie weder erfrieren noch verhungern, er nimmt sie auf die Schultern, schafft Geräte für ihre Fortbewegung, hängt sie an Schläuche, füttert sie, erhebt einige von ihnen sogar in den Stand der Führungseliten … Eigentlich kaum zu glauben, daß die Welt trotzdem immer schneller wird.
Und dennoch, die Behinderung bleibt verdächtig. Und viel verdächtiger als im Falle Simons ging es gar nicht mehr.
Gleich, was ich auch unternahm, und gleich, was die anderen unternahmen, Simon verharrte in seinem höchstpersönlichen Sprachschatz. Wobei er weder stur noch aufsässig wirkte. Was sein Verhalten aber erst recht als behindert erscheinen ließ. Behindert im Sinne einer niemals gewachsenen und auch in Zukunft nicht mehr wachsenden, also nachwachsenden Extremität. Er schien weder traumatisiert noch ein radikaler Rebell zu sein, sondern schlichtweg eingeschränkt.
Mein krankes, fremdes, anderes Kind!
Die Gutmeinenden erklärten mir dann immer:»Ihr Kind ist besonders.«
Oft lag mir auf der Zunge, so was zu sagen wie:»Hitler war auch besonders. «Aber klar, das tut man nicht, wie man ebensowenig die Hand dessen wegschlägt, der einem zu helfen versucht.
Zugleich muß gesagt sein, daß ein solches Kind auch eine enorme Freiheit bedeutet. Denn mit einemmal steht man außerhalb der Anforderungen, die uns allen einen erheblichen Streß bescheren. Vor allem, was die Bildung betrifft und ihren militärischen Arm, die Schule.
Obgleich ich selbst ein Schüler gewesen war, der gute und beste Noten abgeliefert hatte, obgleich versiert im Klassensprechertheater (der Trick, innerhalb der Diktatur demokratische Formen zu kultivieren, wie man an einer bestimmten, unwichtigen Stelle des Gartens Unkraut wachsen läßt), also ganz sicher kein Schulversager, im Gegenteil, erinnerte ich mich ungern an diese Einrichtung. Kein Ort in meinem Leben hatte mir derart den Eindruck verschafft, das Leben könnte eine Art von Vorhölle sein und der Mensch also durchaus erleichtert, nach seinem Tode festzustellen, das Schlimmste bereits hinter sich zu haben. Es braucht überhaupt nicht zu wundern, daß ausgerechnet an diesem Ort so viele Amokläufe geschehen.
Nun gut, Simon war siebeneinhalb, und er war in keiner Weise ansteckend. Ein Alien zwar, aber kein Außerirdischer. Auch nicht an ein Bett oder sonstwas gefesselt. Er mußte somit eine Schule besuchen, doch war in seinem Fall der» militärische Anteil «ein höchst eingeschränkter. Simon war für den Krieg und für die Vorhölle einfach nicht geeignet.
Dennoch, die Schule stand ihm zu. Etwas, was der Gesetzgeber als» Teilhabe auf unteilbares Recht «definiert. Es besteht eben auch ein Recht auf jene Dinge, die man gar nicht einfordert. Daneben war nicht ganz unwichtig, daß ich weder Millionär noch Privatpädagoge war und weiterhin dem Beruf des Bademeisters nachging. Simons ganztägige Unterbringung in einer Schule für geistig Behinderte stellte eine Notwendigkeit dar.
Wie anders hätte es funktionieren sollen? Da war nirgends eine Wolke, auf die ich mich zusammen mit ihm hätte setzen können, um auf einen göttlichen Übersetzer zu warten.
Nein, die Schule war in diesem Fall ein Glück. Und mein eigenes Glück war, daß meine Leistung als Vater nicht daran gemessen wurde, wie rasch ich Simon die deutsche Sprache beibrachte, die beizubringen auch seine sonderpädagogischen Betreuerinnen nicht in der Lage waren. Diese seine» Unfähigkeit «erwies sich bald als fundamental. Diesbezüglich war er unangreifbar. Man könnte sagen: unknackbar. Eine Bergianerin drückte es so aus:»Ein Tresor, aber ein lieber Tresor.«
Bei einem Kind ohne Beine verlangt niemand, daß es sich irgendwann aufrichtet und auf nicht vorhandenen Gliedmaßen herumläuft. Bei Simon war es ähnlich. Allerdings gibt es für die Beinlosen Prothesen. Und an der Gestaltung einer Prothese für Simon — einer Art Sprachbrücke — wurde natürlich durchaus gearbeitet. Von verschiedenen Seiten, von meiner, von Seiten der Lehrkräfte und auch von der einer Therapeutin, zu der ich Simon zweimal in der Woche brachte. Übrigens nun bereits als offizieller Adoptivvater, nachdem das Jugendamt das vorgeschriebene Eltern-Kind-Verhältnis festgestellt und das Familiengericht den besonderen Umstand, es hier mit einem alleinstehenden Antragsteller zu tun zu haben, in die auch insgesamt besonderen Umstände eingeordnet hatte. Die ganze Angelegenheit war ein Spezialfall. Wäre ich hingegen schön brav verheiratet gewesen, es hätte eigentlich kaum gepaßt. Nein, hier fügte sich ein Sonderfall in den anderen, und das deutsche Recht — das ja nicht das schlechteste ist, wenn man es ernst nimmt — hatte dafür eine komfortable Nische parat.
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