Daneben bestand ein Zutrauen des Kindes zu mir, das ich mir gar nicht erst hatte verdienen müssen. Es war einfach vorhanden gewesen, von dem Moment an, als ich Simon in einem Raum der Münchner Taipeh-Vertretung die Hand gereicht hatte. Wobei mich niemals das Gefühl verließ, daß dieses» Gottvertrauen«, mit dem das Kind mich beschenkte, der Konsulatsangestellten Heinsberg zu verdanken war. Auf eine gewisse Weise hatte sie mich für Simon ausgesucht. Mitunter kam mir sogar der Gedanke, Heinsberg hätte in einer irren Weise etwas damit zu tun, daß mir viele Jahre zuvor ein toter Pottwal in die Quere gekommen war, der aber auf eine bakterielle Weise doch noch lebendig gewesen war und mich praktisch mit einem allerletzten Akt in ausgerechnet dieses Tainaner Krankenhaus befördert hatte.
Es gibt keine Zufälle. Den Glauben an den Zufall hat die Aufklärung geschaffen, um die weißen Flecken auf der Landkarte des Lebens zu füllen.
Klar, mit gescheiten Sprüchen allein war es nicht getan. Da war noch ein Alltag, von dem gerne gesagt wird, man müsse ihn bewältigen. Da war die Zubereitung des Frühstücks, da war der Beginn der Schule, meine Arbeitsstunden im Bad Berg, das Ende der Tagesbetreuung, die gemeinsamen Abende, die Gestaltung der Wochenenden, das Angeglotztwerden auf der Straße, die Frauen, die meinten, mir Ratschläge geben zu müssen, die Momente wiederum, da mir gute Ratschläge fehlten. Da waren meine lausigen Kochkünste, Simons Aversion gegen die Badewanne, das Vorlesen vorm Einschlafen (richtig, ich las Geschichten vor, und er betrachtete die Bilder und vernahm den Klang meiner Stimme, lachte, manchmal an passenden Stellen, manchmal an unpassenden), da war auch das Kranksein hin und wieder, Simons Launen, meine Launen, verdreckte Kloschüsseln, verschwundene Socken, Zahnarztbesuche … Wollte man den Alltag darstellen, er wäre ein von Ameisen geschaffenes Mosaik, unübersichtlich, abstrakt anmutend und am konkretesten im Fehlen einzelner Socken.
Aber da war noch etwas.
Der Hürdenlauf!
Natürlich wies man mich darauf hin, es sei ein wenig früh, den Jungen für den Hürdenlauf begeistern zu wollen. Laufen allein sollte ja wohl reichen. Eine Hürde sei bedrohlich, ein Hindernis, gewissermaßen eine umgedrehte Grube: eine sichtbare Falle. Weshalb der Instinkt eigentlich gebiete, einen Bogen um den Balken zu machen, anstatt ihn überwinden zu wollen.
Dennoch, ich war überzeugt, daß es besser war, dieses» besondere Kind «auch recht bald in eine besondere Form athletischer Raumbewältigung einzuweisen. Vor allem dachte ich, zumindest anfangs, daß das Wort» Hürde «sich bestens eigne, mit der deutschen Sprache zu beginnen.
Ich wartete eine Weile, dann endlich fuhren wir mit der Straßenbahn hoch zur Waldau, eine im Stadtbezirk Degerloch untergebrachte Anlage aus mehreren Sportstätten, im schmalen Schatten jenes Stuttgarter Fernsehturms gelegen, der nicht nur als erster seiner Art gilt, sondern auch als der schönste: schlank und erhaben, ohne jene gewisse Blässe oder jenes massive Auftrumpfen, wie man es bei den meisten Kopien erlebt. Dieser Turm war vergleichbar all den Kinofilmen, die eine Reihe begründet hatten, etwa Rocky, Alien, Transformers, Jaws, und bei denen sich die meisten Zuschauer immer wieder nach dem Original sehnen. — Da hatten es die Stuttgarter gut, da sie von vielen Punkten der Stadt aus auf diesen hochgelegenen Urturm sehen und darüber so manches verdrängen konnten, was in ihrer Stadt geschah und geschehen war. So wie man zu einem Kruzifix hochschaut und ob der Würde des Gekreuzigten das Elend einer ganzen Kirche vergißt.
Ich war Mitglied bei den Stuttgarter Kickers geworden, eigentlich ein Fußballverein, der mich nicht interessierte, mir aber die Möglichkeit bot, auf der Laufbahn, die einen der Rasenplätze gleich einem anschmiegsamen Saturnring umgab, zu gewissen festgelegten Zeiten meine Hürden aufzustellen und mein eigenes trainerloses Training zu absolvieren. Immerhin hatte ich früher zur Elite der deutschen Hürdensprinter gezählt. Das lag freilich lange zurück, und ich galt am neuen Ort als der» springende Bademeister«, auch wenn» fliegender Bademeister «korrekter gewesen wäre, was dann aber doch zu falschen Assoziationen geführt hätte. Jedenfalls hatte ich dort meine Bahn und meine Ruhe. Und nun eben auch die Möglichkeit, Simon zu unterrichten.
Es war jetzt spät im Sommer und spät am Tag, und das Orangerot der untergehenden Sonne ließ die Tartanbahn besonders schön glühen. Es war ausgesprochen warm, und Simon stand mit kurzer Hose und kurzem Leibchen und Sportschuhen am Rand der Bahn. Sein Anblick verursachte mir einen Stich in der Brust, dieses Haut-und-Knochen-Kind mit der Ausstrahlung einer Gliederpuppe, an der die Kleidung geisterhaft wehte. Da nützte auch nicht zu wissen, wie viele Pizzastücke dieses Kind verdrücken konnte und auch verdrückte. Außerdem hätte man natürlich argumentieren können, daß sein»äthiopischer «Körper sich doch bestens für den Laufsport eigne. Allerdings eher für die Langstrecke als den raschen Lauf über Hindernisse. Etwas muskulöser durfte der Junge also schon noch werden.
Ich stellte die vier mitgebrachten Übungshürden in gleichmäßigen Abständen auf und zog die Balken auf die niedrigste Höhe herunter. Bei alldem schilderte ich genau, was ich tat und wozu. Ich hatte mir das angewöhnt, mit Simon zu reden, ja, ich redete mehr als» normale «Eltern, kommentierte beinahe einen jeden Handgriff, schaute dabei Simon an und hoffte auf ein Zeichen, daß er mich verstanden hatte. Überzeugt, er sei in der Lage, das Wort» Hürde «nachzusprechen. Was er aber nicht tat, kein bißchen.
Hielt ich ihn für einen Simulanten?
Manchmal ja, manchmal nein. Mitunter kam mir vor, die Matadordame aus München hätte recht gehabt, und Simon versuche, sich auf diese Weise zu schützen. Ein bißchen wie die Leute, die lieber Verrückte spielen, als in den Krieg zu müssen. Oder Frauen, die sich häßlich machen, um nicht angequatscht zu werden.
Es war ein Geheimnis um dieses Kind, das tiefer führte als die Aussage, es sei behindert oder besonders.
Ich war mir unsicher, ob Simon mir zuhörte. Ob er irgend etwas begriff von dem, was ich sagte. Oder mir vielmehr freundlich zusah, wie ich meine Lippen bewegte. Und im übrigen einfach gewisse Regeln befolgte, etwa die, daß ein hingelegter Pyjama bedeutete, es sei Schlafenszeit. Während die Erwähnung der konkreten Uhrzeit unerheblich blieb.
In gewissen Abständen geriet er selbst in einen Redefluß. Manchmal, als spreche er mit dem Salzstreuer auf dem Tisch, dann wieder direkt an mich gerichtet. Bisweilen, wenn ich müde war, heuchelte ich Aufmerksamkeit, oft aber war ich konzentriert und darum bemüht, seinen unverständlichen Worten und Lauten zu folgen. In der Hoffnung, Wiederholungen zu bemerken, die dann also ein System nahegelegt hätten. Hin und wieder meinte ich, einen Ausdruck wiederzuerkennen. In etwa.
Es war, als versuchte ich einen Hund oder eine Katze zu verstehen. Und bei denen sind wir ja auch nicht sicher, ob die jetzt intelligente Wesen sind oder doch nur simple Körper auf vier Beinen.
Als ich die Aufstellung der Hürden beendet hatte, nahm ich Simon an der Hand, zog ihn sachte auf die Laufbahn und begann zu traben. Er trabte mit. Ich sagte:»Jetzt wärmen wir uns mal auf.«
«Ich bin schon warm genug.«
Nicht, daß er das wirklich von sich gegeben hatte. Vielmehr hatte ich gedacht, das sei genau die Antwort, wie ich sie von einem Jungen seines Alters erwartete.
Es war aber etwas anderes, was er, nachdem wir in die Gegengerade eingebogen waren, laut ausrief. Etwas wie Chaanda-sa-hrck!
Dabei war er abrupt stehengeblieben und wies jetzt mit dem Arm nach rechts, immer wieder dieses eine Wort aus einem Gewimmel anderer Begriffe und Laute herausrufend. Endlich war eine Wiederholung unverkennbar. Man kann sagen, Simon hatte zwar das Wort» Hürde «nicht gelernt, aber ich den Ausruf» Chaanda-sa-hrck!«Und brauchte jetzt nur noch zu begreifen, was das zu bedeuten hatte.
Читать дальше