Im selben Jahr wurde die Kirche fertig, hoch oben auf dem jenseitigen Ufer der Havel, direkt neben der russischen Siedlung Nikolskoje, die der König einst anläßlich des Besuchs von Charlotte hatte errichten lassen, seiner Lieblingstochter, die seit nun auch bereits zwanzig Jahren mit Zar Nikolaus I. im fernen Rußland verheiratet war. Auch Gustav hatte geheiratet. Eulalia Trippel war die Schwägerin eines Hofgärtnerkollegen und glich, wie Marie fand, seiner Mutter aufs Haar. Und auch Maitey heiratete in der kleinen Kirche am Stölpchensee, Doro, die Tochter des Tierwärters, in die er sich verliebt hatte, als sie die Vögel aus seiner Heimat fütterte. Es war ein schönes Fest, und Marie hatte einen Ehrenplatz an der Tafel. Doch da er nach dem Tod Christians immer wieder mit Gustav aneinandergeriet, bat Maitey danach um die Erlaubnis, mit seiner Frau nach Klein Glienicke übersiedeln zu dürfen, was ihm gestattet wurde, wenngleich der Maschinenmeister Friedrich, den man wegen all seiner feinen Elfenbeinarbeiten zum akademischen Künstler ernannt hatte, sehr dagegen protestierte. Nach Maiteys Wegzug verließ keines jener filigranen Modelle mehr seine Werkstatt.
Der Abschied fiel Marie schwer, und sie sah den beiden lange nach. Doro saß inmitten all des Hausrats im Karren wie in einem Nest und winkte, bis sie im Wald jenseits der Havel verschwunden waren. Maitey, der Marie noch einmal lange umarmt hatte und neben dem Karren ging, sah sich ganz am Schluß noch einmal nach ihr um.
Gustavs erstes Kind hieß Christine Ida Auguste, das zweite Ludowike Marie Elisabeth, und für eine Weile holte der Schmerz über diese Namenswahl Marie aus ihrer Lethargie. Auch der Tod Carl Friedrich Lichts, des Riesen, schmerzte sie. Zwei neue Conservir-Treibhäuser wurden errichtet, das Palmenhaus wurde außen gestrichen, und man begann, die tönernen Wasserleitungen durch Eisenrohre zu ersetzen. Madame Hardenberg schenkte dem König einen Affen, der Kaufmann und Fabrikbesitzer Jacobs aus Potsdam eine indische Kuh, der Postmeister und Gastwirt Joseph Schweig aus Ried am Inn einen Gemsbock. Als van Aken starb, erwarb Sieber aus dem Nachlaß seines ehemaligen Patrons für die Insel ein Kondorpaar, ein Stachelschwein, fünf Mufflons und einen schwarzen Papagei. Der König von Schweden schenkte drei männliche und drei weibliche Rentiere, zu denen sich nach der Reise noch drei Kälber gesellten, allesamt begleitet von zwei Lappländern nebst Dolmetscher. Und das Schiff der Seehandlung brachte aus Manila vier Zwerghirsche, drei Javaneraffen, einen roten Lori, zwei Paar Tauben aus Kuba und Málaga, eine Tibetkatze, sechs türkische Enten, fünf chinesische Gänse und drei Schildkröten mit dem nötigen Seewasser nach Hamburg, von wo aus sie mit dem Dampfer Henriette auf die Insel gelangten. Der Großherzog von Mecklenburg schenkte vier Schafe, der Magistrat von Magdeburg einen Biber, Herr von Jagow-Ehrdorf einen Fischotter, der französische Gesandte in Berlin eine Gazelle. Professor Lichtenstein kaufte von einem Bauern einen jungen Seeadler. Der Opernsänger Heinrich Blume schenkte zwei damals noch sehr seltene Shetlandponys und schrieb stolz in seinem Begleitbrief, man sage, sie seien die ältesten Tiere Europas; ihre Vorfahren hätten die Eiszeiten überdauert .
Die drei Murmeltiere, die der Konditor Zappa aus der Schweiz mitbrachte und dem König überreichte, waren die letzten Geschenke an die Menagerie auf der Pfaueninsel. Als Wilhelm Otto zur Welt kam, Maiteys Erstgeborener, stand Marie Pate. Nur ein Vierteljahr wurde das Kind alt, dann starb es. Gustav wurden zwei weitere Töchter geboren, Anna Charlotte Luise und 1840 Friederike Pauline Elisabeth. Im Sommer jenes Jahres starb der König.

Das Wasser war wie erstarrt, dazu war es völlig windstill und der Himmel so sternenlos schwarz, daß er den Fluß bis auf den Grund zu trüben schien. Und es regnete. Es regnete, als ob es seit Tagen regnete, völlig gleichmäßig und monton, doch so dünn fiel der Regen, daß niemand, der in diesem Moment an jener Stelle der Uferböschung gestanden hätte, den Einschlag der Tropfen auf der Wasseroberfläche hätte sehen können. Aber da war ja niemand, dessen war sich Marie in ihrem Traum ganz gewiß, denn die ganze Insel lag ebenso erstarrt wie die Havel. Längst war die Winterkälte durch alle Räume des leeren Schlosses gezogen, das Kastellanshaus seit Jahren verwaist. Die Fähre, fest vertäut an der Landungsstelle, rührte sich nicht. Kein Tier machte irgendein Geräusch, keines der exotischen Wesen aus den Käfigen der Menagerie war zu hören, keiner der einheimischen Vögel. Die Pfauen schliefen wohl in ihren Bäumen und im Schilf rund um die Insel reglos die Haubentaucher und Möwen. Wie still es war! Wirklich alles schien tot in diesem Moment, so tot, wie ein Augenblick nur sein kann.
Um so überraschender, als es plötzlich, in diese vollkommen leblose Stille hinein, gluckste im stillen Wasser. Nicht so, als wäre etwas hineingefallen, sondern eher, als hätte sich eben etwas von seinem trüben Grund gelöst und komme nun an die Oberfläche, gerade hier, an dieser Stelle des Ufers. Ein dumpfes Schwappen, dann war da, inmitten dieser Bewegung, mit der das schwarze Wasser ganz sanft sich bauschte, ein Ding, ein Klumpen, ein hautweißer Brocken, als wäre etwas in durchnäßtes Linnen geschlagen.
Und dann ging alles ganz schnell. Fast im selben Moment, als jener Klumpen, plötzlich, aus dem Nichts an die Oberfläche kam, spürte Marie sich schon loslaufen, und dann sah sie ihre eigene winzige Gestalt, wie sie die Böschung herabkam durch das glitschige Gras, eilig und nicht achtend, ob sie etwa ausrutschte oder sich in dem dichten Unterholz verfing, das hier seit vielen Jahren ungestutzt aufwucherte, denn sie wußte voller Angst, um alles in der Welt müsse sie jenen Klumpen, jenes weiße Etwas, vorm Versinken bewahren. Und sie sah, von außen, wie es ihrer kleinen, in eine rote Pelerine gehüllten Gestalt, deren Kopf von einer weiten Kapuze verdeckt war, bei aller Eile sogar noch gelang, im Vorübergehen und ohne einen Blick von jenem Klumpen zu nehmen, der schon dabei war, auf den Fluß hinauszutreiben, einen langen Ast aus dem festverbackenen Wintergras zu zerren. Und ohne einen Augenblick zu zögern, begann sie, als sie dann am Ufer stand, mit dieser morschen Rute, entrindet und weiß vor Schimmel, nach dem ebenso weißen Ding dort draußen im Wasser zu fischen.
Das aber, und diese Gewißheit ließ Marie beinahe losschreien in ihrem Traum, war völlig aussichtslos, denn jenes weiße Ding trudelte stets von der dünnen Astspitze weg, die von der Anstrengung zitterte, mit der Marie die Rute so weit, wie es ihr möglich war, aufs Wasser hinausstemmte, wobei die Kapuze ihr immer wieder ins Gesicht rutschte, so, daß Marie nichts sah und sie immer wieder mit dem Ellbogen zurückschieben mußte, während das Ding wieder davontrudelte. Doch schließlich gelang es ihr trotzdem, und obwohl sie nicht mehr darauf zu hoffen gewagt hatte, gerade noch rechtzeitig jenen fahlen weißen Klumpen, bevor er endgültig ins Schwarz hinaustrieb, mit der zarten Spitze des Astes zu berühren und ihm den richtigen Drall zu geben. Mit ganz vorsichtigen kleinen Schlägen stupste und streichelte sie ihn ins Uferschilf.
Und kaum war er in Reichweite, ließ Marie, schweißgebadet, zitternd, atemlos, den Ast fallen und stürzte sich in das eiskalte Wasser, in den Schlick und zwischen die Binsen, und zog den Klumpen heraus und war schon wieder aus dem Wasser und behend die Uferböschung hinauf, im Arm jenes Ding, das ihr so kostbar war, und so schnell sie konnte, passierte sie das Schloß und lief über die Schloßwiese, auf der noch Plaken alten Schnees im Dunkel schimmerten. Wobei sie in ihrem Traum nicht zu sagen vermochte, wohin sie eigentlich wollte. Denn am Rand der Wiese war nichts als der schwarze Wald. Es war, als ob sie zögerte, weiterzuträumen. Aber mag es auch so scheinen, lassen Träume uns doch nicht wirklich eine Wahl. Plötzlich schimmerte da, am Waldsaum des uralten Eichwaldes, etwas in der Nacht. Etwas wie Glas, von hinten beleuchtet, eine Glasfront, und sie, die sich selbst nachschaute im Traum, wunderte sich sehr darüber, und erst recht, als sie so etwas wie eine Tür in dieser schimmernden Front zu finden schien, die sie öffnete und hinter der sie verschwand.
Читать дальше