Der Beliebtheit der Pfaueninsel bei den Berlinern tat dies keinen Abbruch. In diesem Sommer 1831 kamen sie nicht mehr nur mit Postkutschen und Kremsern, auf Gondeln und Kähnen, sondern erstmals auch auf dem Seehandelsdampfer Havel . Dienstags und donnerstags um acht und um halb elf Uhr am Vormittag, am Nachmittag um halb zwei, vier und sechs Uhr legte er in Potsdam ab, um die Menschen, die nach Tausenden zählten, herzubringen. Um sieben am Abend war die letzte Rückfahrt.
Fintelmann postierte an diesen Tagen sechs Gendarmen am Landungssteg, und Sieber wies jeden an, den er entbehren konnte, bei den Tierkäfigen für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen. Es kamen vor allem die Soldaten der Potsdamer Garnison, zumeist Grenadiere der Garde du Corps , und Fintelmann beschwerte sich in diesem Jahr mehrmals beim Hofmarschall, daß sie die gesperrten Wege begingen, betrunken waren und überhaupt die Ordnung störten. Marie verließ dann ihre Stube nicht, so heiß und stickig es darin auch war, schlief viel und wachte immer wieder schweißgebadet aus seltsamen Träumen auf, in denen Christian eine Rolle spielte, aber auch Gustav, und die selbst voller hitziger Berührungen und Küsse waren, für die sie sich ein wenig schämte, während sie ihrem schlafenden Kind Luft zufächelte.
Im Herbst ereignete sich auf der Insel ein weiterer Todesfall. Der Mohr Theobald Itissa wurde bei einer Jagd versehentlich erschossen. Als Köhler, der Jäger, zu der Leiche des Schwarzen kam, die hingestreckt im dürren Buschwerk auf dem alten Laub lag, und sah, wie das Blut unter dem Körper hervordampfte, spürte er unbehaglich, wie sich in seinen Schrecken über das Unglück Jagdfreude mischte, und für einen Moment betrachtete er Itissa wie jedes Wild, das er erlegt hatte.

Am Martinstag kam es, zum ersten Mal nach der Nacht von Christians Tod, zu einem Wiedersehen von Gustav und Marie. Wie jedes Jahr wurden an diesem Tag auf der Insel Hühner, Gänse und Tauben versteigert, man hatte auf der Schloßwiese diverse Körbe und Käfige aufgestellt, und, da es seit einigen Tagen sehr kalt geworden war, eiserne Feuerkörbe, an denen man sich wärmen konnte. Auch Grog wurde gegen geringes Entgelt ausgeschenkt, was die, die an diesem Tag auf die Insel kamen, durchaus zu schätzen wußten. Zwar betrachtete man ausgiebig die Tiere, doch die meiste Zeit stand man am Feuer und unterhielt sich, man kannte einander, es waren nicht die üblichen Ausflügler hier, sondern vor allem Bauern und Kleinhäusler aus Stolpe und den anderen Gemeinden der Umgegend.
Maitey hatte Marie vorgeschlagen, sie sollten sich den Trubel doch einmal besehen, der sich da auf der Schloßwiese ausbreitete, und Marie hatte nach einigem Zögern zugestimmt, den Kleinen fest in dicke Tücher gepackt, ihm darunter noch Handschuhe angezogen und ein Mützchen, das sie nach Anleitung der Klugin gestrickt hatte, und um sich selbst und das Kind nochmals ein Tuch geschlagen.
Sie hatte ein wenig Angst davor gehabt, unter Menschen zu gehen, so lange hatte sie niemanden gesehen als die Bewohner des Cavaliershauses und eben Maitey, doch ihre Befürchtungen waren ganz grundlos gewesen, das Kind schlief fest und warm in ihrem Arm, und die Bewohner der Insel, die sie so lange nicht gesehen hatte, begrüßten Marie aufs herzlichste und schauten neugierig dem Kind in das kleine Gesichtchen. Immer wieder wurden neue Scheite ins prasselnde Feuer geworfen, und hoch stieben die Funken auf. Auch Fintelmann war da, seine greisenhaft spitze Nase rot vor Kälte, und er freute sich offensichtlich sehr, Marie zu sehen, und herzte den Kleinen über alle Maßen. Und selbst die Herrnhuterin lächelte dem Kind zu. Wann denn nun Taufe sein werde, fragte sie gerade und beugte sich dabei zu Marie hinab, als um sie her das Gespräch mit einem Mal stockte. Verwundert richtete die Tante sich auf und schaute in dieselbe Richtung wie alle anderen in der Runde.
»Was ist denn?« fragte Marie neugierig, da ihr die schweren Mäntel und Joppen im Weg waren, und suchte Maiteys Blick, der jedoch so haßerfüllt, wie sie es noch nie an ihm gesehen hatte, in ebendieselbe Richtung starrte. Und dann teilte sich die Gruppe wortlos, und Marie sah Gustav mit festem Schritt auf sie zukommen. Doch ebenso überrascht wie sie, machte er im selben Moment, in dem er sie entdeckte, auf dem Absatz kehrt und ging wieder in Richtung Kastellanshaus davon. Er hätte ihn getötet, wenn er näher gekommen wäre, das schwöre er, zischte Maitey.
Als aber Gustav am selben Abend an Maries Tür klopfte und ins Zimmer trat, war er nicht da, um ihr beizustehen. Marie saß an der Wiege, schaukelte das Kind und hielt ihm das Rubinglas vor. Von Anfang an war es sein Liebstes gewesen, wenn sie es über seinem Gesicht drehte und der rote Schein darin aufblitzte. Zog das Leuchten sich tief ins Glas zurück, wurde sein Blick aufmerksam und ernst. Daß jetzt jemand im Zimmer stand, bemerkte das Kind nicht. Aber Marie empfand wieder dasselbe wie am Nachmittag, tatsächlich ein Moment der Freude, doch nur kurz, dann Gleichgültigkeit und noch etwas anderes: Angst. Sie brachte kein Wort heraus.
Gustav aber begann gleich zu sprechen. Daß er sie, nachdem er nun wieder da sei, doch gern begrüßen wolle. Wie es ihr denn gehe. Und dem Kind.
»Dem Kind?« fragte sie tonlos, während er mit zwei Schritten bei ihr und an der Wiege war. Stumm beugte er sich darüber und starrte einen langen Moment hinein.
»Christian, ja?« fragte er und lächelte bitter.
Marie nickte. Auf gar keinen Fall wollte sie, daß er es anfasse, und begann, so schwer es ihr fiel, eine Plauderei über dies und das. Und tatsächlich machte er keine Anstalten, es zu berühren. Auch daß der Löwe gestorben sei, erwähnte sie irgendwann. Aber das wisse er ja.
»Ich mochte das Tier nicht«, entgegnete er unerwartet scharf und machte einige energische Schritte durchs Zimmer. »Weißt du noch, wie sich einmal der Bär losgerissen hatte und hinter mir her war?«
»Ja.«
Marie erinnerte sich. Die Grube im Wald hatte man erst gegraben, nachdem damals der russische Braunbär, der als ausgesprochen gefährlich galt, über die Insel gezogen war. Vierzehn Fuß tief aufgemauert, zwanzig Fuß weit, mit einem eisernen Staket versehen, nahm man sie erst wahr, wenn man davorstand. Es sei denn, man hörte zuvor das Brüllen des Bären. Aus der Tiefe drang es so unheimlich verstärkt herauf, daß es jeden unwillkürlich schauderte, der in seine Nähe kam.
»Da bin ich vielleicht durch das Unterholz gestolpert!«
Wie er sich ereiferte.
»Und bin schließlich, bevor das schreckliche Tier Gott sei Dank von mir abließ, noch in ein Lattichgestrüpp gestürzt. Wie das gestunken hat!« Er schüttelte sich vor Abscheu.
»Dir ist nichts geschehen.«
»Aber der Gestank! An den Bären mußte ich immer denken, wenn ich die Reißzähne des Löwen sah. Gut, daß er weg ist! Weg in einem Faß nach Berlin. Da sollen sie ihn ausstopfen, ist mir recht. Hierher hat er nicht gehört.«
»Und wer gehört hierher, Gustav?«
Er hielt verdutzt inne und schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht. Alles hier wird anders werden.«
Marie hätte gern gewußt, was er damit meinte, aber sie wollte nicht, daß er noch wütender wurde. Und konnte ihn, in dieser klarsichtigen Angst, vielleicht zum allerersten Mal anschauen und sehen, wie er tatsächlich war, und erinnerte sich daran, wie er damals die Hortensien gefärbt hatte. Wie er da im Garten vor dem Onkel kniete, war etwas so Trauriges um ihn gewesen. Nichts davon ist mehr da, dachte sie, und verstand nicht mehr, wie sie ihn jemals hatte lieben können.
»Wie alt ist es?«
Seine Frage holte sie aus ihren Gedanken. Sie hatte gar nicht bemerkt, daß er nun wieder ganz nah bei ihnen beiden stand. »Gut acht Monate.«
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