Plötzlich warf er sich herum, als wollte er die Krankheit noch einmal abschütteln, und mit hechelndem Maul sah er sie an. Erschrocken von der unerwarteten Bewegung wich sie einen Schritt zurück. Doch sein Blick, in den die alte Kraft noch einmal zurückgekehrt zu sein schien, bannte sie. Sie meinte zu sehen, wie er ihren Bauch betrachtete, und da sie eine Expertin für Blicke war, fühlte sie sich lebendig unter ihm und schön. Am nächsten Tag war der Löwe tot, und zwei Tage später bekam Marie ihr Kind.
Der Schmerz ließ sie stöhnend aufs Bett sinken, und kaum saß sie, wurde es naß zwischen ihren Beinen. Furchtsam rief sie nach der Klugin.
»Kindchen, Kindchen!« schüttelte diese den Kopf, als Marie ihr erklärte, sie wolle nicht, daß die Hebamme komme. Der Onkel hatte angeordnet, daß Doktor Pfeil geholt werden solle, wenn es soweit wäre, da man nicht wisse, welche Komplikationen es bei ihr geben könne, aber das wollte Marie noch weniger. Also strich sich die Klugin die Hände an ihrer Schürze ab, nahm das Laken vom Bett, wischte das Fruchtwasser auf und brachte frische Wäsche, in die hinein sie Marie legte. Der Schmerz in ihrem Bauch rollte in langsamen Wellen heran, deren Zurückhaltung sie mehr ängstigte, als wäre er wie ein Gewitter über sie hereingebrochen.
»Ich komme und schaue nach dir, wenn ich Zeit habe. Du mußt immer schön drücken. Ruf mich, wenn etwas ist.«
Die Frau des Gartenknechts sah sie besorgt an. Sie glaubt, daß ich sterben muß, dachte Marie und wollte noch etwas Beruhigendes sagen, doch da war sie schon hinaus. Marie fühlte sich im selben Moment sehr einsam. Aber sie beherrschte sich, denn der Schmerz, der in ihr pulsierte, in langen gnädigen Wellen, ließ ihr keine Wahl. Dem, was jetzt geschah, konnte sie sich nur überlassen, und so lag sie still und ließ die Zeit vergehen. Irgendwann dämmerte der Abend, und sie begann unruhig zu werden, weil sich nichts zu verändern schien. Wie groß mochte das Kind sein? Würde es sie zerreißen?
Die Klugin kam und brachte eine Lampe und etwas zu trinken, und plötzlich stand Maitey in der Tür und fragte verlegen, ob er hereinkommen dürfe. Die Klugin schüttelte mißmutig den Kopf und eilte hinaus. Marie probierte ein Lächeln und hieß ihn, sich zu ihr zu setzen. Aber die Schmerzen wurden nun stärker, und sie bat Maitey, ihr doch von seiner Heimat zu erzählen. Sie hörte so gern vom Meer und wie klar es war unter dem hellen Himmel. Vom Sand und den Palmen, die sich über den Strand beugten. Von seinem Vater und den vielen Geschwistern. Von der Insel, von der er kam, die eine Insel unter unzähligen Inseln war im Meer. Von den Fischen, von den glitzernden Fischen.
»Es ist Gustavs Kind.«
Maitey nickte. Irgendwann hatte sie ihm alles von Gustav und sich erzählt, von allem Anfang an. Auch, wenn sie nicht sicher war, was er davon begriff.
»Vielleicht sterbe ich.«
Wieder nickte er.
»Meinst du, ich sterbe?«
Statt ihr zu antworten, begann er zu singen, so leise, daß man es im Haus nicht hörte, und Marie malte sich aus, sein Lied erzähle von jenem Meer und jenen Inseln, und es schien ihr, als hielte sein Gesang den Schmerz in Zaum und besänftigte seine Wellen. Sie dämmerte kurz weg, träumte gar für einen Augenblick von den Pfauen und dem Löwen, dem Äffchen in seinem Käfig und von den Känguruhs. Sie hatte es gesehen, dachte sie stolz im Halbschlaf, hatte gesehen, wie das Kleine hinaufgekrochen war in den Beutel, eines Morgens, als sie am Gatter stand. Niemand sonst hatte es gesehen, nur sie. Dieses winzige Wesen mit den großen geschlossenen Augen, wie es sich durch das Fell der Mutter kämpfte, die es besorgt beschnüffelte dabei, bis es endlich in ihrem Beutel verschwunden war. Dann hörte Maiteys Gesang auf, und der Schmerz kam wieder. Oder war es umgekehrt? Längst konnte sie nicht mehr sagen, wie lange es schon dauerte. Sie tastete nach seiner Hand und hielt sie fest, konzentrierte sich nur mehr auf den Schmerz und hielt seine Hand so fest sie konnte.
»Tu’ ich dir weh?« fragte sie noch und sah ihn mit entsetzten Augen an.
Dann schrie sie. Sie hatte es nicht gewollt, und es war ihr peinlich, doch der Schmerz drückte plötzlich wie eine eiserne Faust in ihr nach unten, sie hatte nicht erwartet, daß es noch schlimmer werden würde, und sie schrie und schnappte hechelnd nach Luft und schrie, immer auf den Wellen des Schmerzes, als könnte sie auf ihnen dahingleiten.
Die Klugin riß die Tür auf, stürzte herein und scheuchte Maitey hinaus, der dabei mit Doro zusammenstieß, die, totenbleich, eine Schüssel heißes Wasser hereinbalancierte, Handtücher über dem Arm, während Marie immer weiter schrie vor Schmerz, der ihr nun keine Pause mehr ließ. Sie beugte sich über sie, riß die Decke weg und sah ihr zwischen die Beine, nahm dann Maries Oberkörper und hielt ihn ganz fest, bis sie sich tatsächlich ein wenig entspannte.
»Und nun drücken. Immer feste, Kindchen. Drücken!«
»Ich will, daß es Christian heißt!« preßte Marie hervor. »Es soll Christian heißen!« Auch wenn ich sterbe, dachte sie, und dann war es vorbei.
Woher Doktor Pfeil dann kam, wußte sie nicht. Es wunderte sie, was er da tat zwischen ihren Beinen, denn sie spürte gar nichts mehr, sah das Blut nicht, das das Laken tränkte, hörte nur, als wäre sie unter Wasser, wie ihr Herz bis zum Hals schlug und wie dieses Schlagen langsam leiser wurde, und spürte, wie angenehm es war, so ruhig atmen zu können, und wäre beinahe eingeschlafen. Da wurde sie plötzlich aus dem Bett gehoben und riß überrascht die Augen auf, aber schon lag sie wieder auf einem frischen, trockenen Laken, und man deckte sie mit einem weichen Federbett zu. Das ist nicht meine Decke, dachte sie, und schon fielen ihr die Augen wieder zu. Und dann dachte sie: Wo ist mein Kind? Und im selben Moment legte man ihr etwas in den Arm, und Marie sah die massige Gestalt der Klugin, die sich lächelnd über sie beugte, und dann das Päckchen mit dem kleinen Gesicht. Vor dem Fenster dämmerte es, und der Schein der Lampe auf dem Nachttisch verlor ganz langsam alle Kraft.

Im Sommer kam der Maler Carl Blechen auf die Insel. Er hatte den königlichen Auftrag, das Innere des Palmenhauses zu malen, und dafür vorab um einige Modelle gebeten. Fintelmann ließ unter anderen Doro dem Maler zur Hand gehen und Maitey ihm helfen, seine große Kiste vom Landungssteg heranzuschaffen. Der Sandwich-Insulaner war äußerst besorgt, was im Palmenhaus mit seiner Freundin geschehen werde, die Erinnerung an Christians Tod noch frisch, und so stand er den ganzen Tag an den großen Scheiben und spähte, in der Hand eines seiner Schnitzmesser, unablässig hinein.
Und auch August Sieber, der Mann, den Marie im Regen neben van Aken am Cavaliershaus hatte vorübergehen sehen, kam wieder auf die Insel. Mit einem Jahresgehalt von sechstausend Talern war er zum Königlichen Menagerieaufseher bestellt worden und Fintelmann sehr froh, dieser Verantwortung nun ledig zu sein. Sieber wurden der Fasaneriejäger Johann Georg Köhler und Martin Wiesenack unterstellt, Nachfolger des im letzten Jahr gestorbenen Schäfers Elsholz, und dazu die beiden Tierwärter Hermann Johann Becker und Daniel Wilhelm Parnemann. Alle außer Wiesenack, der in Nikolskoje zu Hause war, wohnten im Cavaliershaus, Sieber selbst hatte Zimmer und Kammer im Hintergebäude des Palmenhauses. Doch die Lage der Tiere besserte sich nicht. Bald schon schrieb Sieber an seinen Vorgesetzten Lichtenstein, er lasse es an nichts fehlen , aber dennoch müsse er den Herrn Professor bitten, durch Seine Exzellenz oder Herrn Geheimkämmerer Kynast Seine Majestät den König es wissen zu lassen, daß so viele Affen gestorben sind, und daß ich nicht Schuld daran bin. Ich weiß vor Angst und Sorge nicht mehr, was ich anfangen soll. Meine ärgsten Feinde hier auf der Insel können nichts anderes sagen, als daß ich mit vieler Sorgfalt und Mühe meine mir anvertraute Menagerie beobachte .
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