»Gustav«, sagte er, »ist in Paretz. Er wird den Winter über dortbleiben.«
Er befürchtete schon, sie werde ihm nicht antworten, so lange stand der Satz im Raum. Doch schließlich, ohne daß ihr Ausdruck sich änderte, sah sie ihn an.
»Da ist nichts zu tun im Winter.«
Der Onkel nickte. »Im nächsten Frühjahr übernimmt er bei Sello in Sanssouci die Melonerie.«
Sie sah ihn weiter mit diesem toten Blick an, der so kalt durch ihn hindurchging, daß es ihn ängstigte. Erwartete sie wirklich, er werde sich für Gustav bei ihr entschuldigen? Und was hülfe das?
Marie hatte zunächst nur weggewollt, von Gustav, von der Insel. Doch wohin? Und wovon leben, zumal mit dem Kind, das sie bald haben würde? Es ist meine Insel, hatte sie dann trotzig gedacht. Und es ist mein Kind. Und hatte den Beschluß gefaßt zu bleiben. Wichtig war nur, daß sie Gustav nicht mehr begegnen mußte. Denn seltsamerweise fühlte es sich für sie so an, als wäre nicht Christian, sondern Gustav der Tote.
»Ich will hier nicht mehr wohnen«, sagte Marie.

Immer wieder derselbe Traum. Nur sie drei waren im Palmenhaus, Christian und sie verborgen hinter den Blättern, und Gustav mit seinem Zeichenblock auf einem Falthocker vor den Pflanzen. Zwischen den Palmwedeln hindurch beobachteten sie ihn, und sie waren nackt, und sie sah im Traum ihre beiden Körper weiß zwischen dem Grün hindurchschimmern. Und sie wußte, Gustav bemühte sich sehr, sie nicht zu beachten. Die Schatten im spärlichen Licht und all die nickenden, spitzen, gezackten Wedel. Und draußen, vor dem Glas, die schwarze Nacht.
Und dann lagen sie plötzlich auf einem orientalischen Teppich, immer noch nackt, und sie hatte ein buntes seidenes Tuch um die Haare geschlungen und dünne goldene Ketten um ihre Taille, als wäre sie eine orientalische Prinzessin, und Christian und sie mußten darüber so sehr lachen, wie sie zuletzt als Kinder miteinander gelacht hatten, und dann war Christian verschwunden, und als Marie aufstehen und zu Gustav hinübergehen wollte, konnte sie es nicht, sosehr sie sich in ihrem Traum auch anstrengte.
Irgendwann hörte sie dann das Geräusch von klappernden Hufen auf den Steinplatten, und dann war Christian wieder da, und er trug wieder seine Hose aus Schafsfell, und an einem roten Seidenbändchen, mit einer Schleife um den Hals, führte er das schöne Astrachanschaf heran, das schon so lange tot war. Die Ketten um ihren Bauch, an denen jetzt Münzen befestigt waren, klimperten, als sie sich aufrichtete, was jetzt ganz leicht ging. Christian gab ihr das Band, dessen Rot ihr seltsamerweise unerträglich in den Augen schmerzte, während sie zusah, wie ihr Bruder sich mühte, Gustav die Hose aufzunesteln, der sich jedoch sehr dagegen wehrte. Aber Christian war stärker und drückte ihn schließlich gegen das Schaf.
Es ist das Schaf mit dem weichsten Fell auf der Insel, hörte sie sich selbst sagen. Und das Schaf stand ganz still, und sie hielt das Band fest, und Gustavs Hände krallten sich in das warme, fellige Hinterteil des Tieres. Doch dann ließ sie das Band los und wachte auf.

Es war Anfang März und regnete ohne Unterlaß, doch Marie fühlte sich wohl in ihrer neuen Stube im zweiten Stock des Cavaliershauses. Vor langer Zeit, noch bevor man das Schloß, die Meierei und das Kastellanshaus und dann alles andere errichtet hatte, war es einmal das Gutshaus der Insel gewesen, dann Unterkunft für die Kinder des Königs, und jetzt wohnte der Gartenknecht Kluge mit seiner Frau hier, dazu die Jäger und Fischer und seit diesem Jahr auch der Tierwärter Daniel Wilhelm Parnemann. Etwas verlassen gelegen im Wald hinter der Menagerie, hatte das Haus noch etwas von der früheren Zeit bewahrt, und wenn man nicht hinausging, konnte man die reichverzierte gotische Fassade ganz vergessen, mit der Schinkel den alten Nutzbau als Attraktion in den Park eingefügt hatte. Immerzu hörte man Schritte auf der breiten Treppe, Stimmen in den Gängen, kochte jemand in der großen Küche.
Selten fand Marie sich dort ein, um mit den anderen zu essen, meist brachte die Klugin ihr etwas herauf. Wenn der Onkel, was ein paarmal vorkam, nach ihr sehen wollte, ließ sie ausrichten, sie schlafe. Einmal kam die Tante, um zu fragen, ob sie etwas brauche, Marie dankte und schüttelte den Kopf. Die Herrnhuterin betrachtete ihren Bauch und bestand darauf, daß der Potsdamer Arzt, der für die Versorgung der Tiere zuständig war, bei seinem nächsten Besuch auch nach Marie sehe. Dr. Pfeil fand alles in der rechten Ordnung. Es war das erste Mal, daß ein Arzt sie berührte, doch er verstand es, ihr Vertrauen dadurch zu gewinnen, daß er sein offenkundiges Interesse an ihrer Anatomie mit jener Gleichgültigkeit maskierte, die er sich im Umgang mit den Tieren angewöhnt hatte.
Und noch jemand interessierte sich für sie. Eines Morgens, als sie im Bett nicht mehr gewußt hatte, wie sie liegen sollte, und hinausgegangen war vor das Haus, hörte sie plötzlich energische Schritte, die sich auf dem Kies näherten, und dann kamen zwei Gestalten aus dem Regen, die sie noch nie auf der Insel gesehen hatte. Zwei großgewachsene Männer schritten schnell vorüber, die breitkrempige Hüte trugen und weite Mäntel, von denen der Regen abtropfte, und grobe Stiefel, an denen Erde klebte. Ihre Gesichter konnte Marie unter den Hüten nicht erkennen, aber daß einer der Männer eine kleine Peitsche in der Hand hielt, die er bei jedem Schritt spielerisch gegen seinen Oberschenkel schlug, bemerkte sie.
Bei den beiden handelte es sich um die Tierhändler Hermann van Aken und August Sieber. Van Aken aus Rotterdam betrieb eine wandernde Tierschau und war auch als Tierhändler am preußischen Hof in Erscheinung getreten. Er schlug sein Zelt meist auf dem Exerzierplatz vor dem Brandenburger Tor auf, und im letzten Herbst hatte der König dort seine Menagerie besucht. Van Aken war dann zum Berater für die Pfaueninsel ernannt worden, um der hohen Tiersterblichkeit Herr zu werden, und hatte dem Hofgärtner in diesem Winter zum ersten Mal Medizin geliefert, vor allem für die Affen, die zumeist an Husten, Schnupfen und rheumatischem Fieber litten. Im Gegenzug durfte van Aken seine eigenen Vögel auf der Pfaueninsel überwintern lassen.
»Wissen Sie, Sieber«, sagte er mit seinem weichen holländischen Akzent, »das Geschäft mit den Tieren wird nicht mehr lange gehen. Mein Vater Anthonys selig konnte das noch mit Erfolg betreiben. Der Prinz von Oranien, der selbst ordentliche Menagerien in Den Haag und Apeldoorn besaß, hat ihn besucht! Aber heute?«
Die beiden hatten auf dem Weg zur Voliere, wo sie ihre Bestände inspizieren wollten, das Cavaliershaus passiert und waren nun wieder im Wald. Schweigend stapften sie weiter durch den Regen. Doch irgendwann blieb van Aken stehen und sah August Sieber mit blitzenden Augen an.
»Haben Sie die Gestalt da eben bemerkt? Wissen Sie, die Menschen haben ein unstillbares Verlangen nach außergewöhnlichen Erscheinungen. Ob Zwergköniginnen oder Riesenknaben, fette Kolossaldamen oder behaarte Affenmädchen, Hermaphroditen oder siamesische Zwillinge, das ist ganz egal. Ich sage Ihnen, diese Zwergin da, mit dem Balg, das sie bald haben wird, das wäre einmal etwas!«

Und dann machte die Nachricht die Runde, der Löwe liege im Sterben. Gut fünf Jahre war es her, daß man ihn auf die Insel brachte. Im letzten Winter hatte er bereits eine Lungenentzündung überstanden, sich jedoch nie mehr ganz erholt. Marie machte sich gleich auf, ihn noch einmal zu sehen, und wie immer war es, als hätten die Tiere in ihren Käfigen auf sie gewartet. Auch der Löwe schleppte sich gleich aus der hintersten Ecke, in die er sich verkrochen hatte, zu ihr hin und ließ sich so an den Stäben nieder, daß sie seinen Bauch streicheln konnte, der sich schwer hob und senkte. Sie erinnerte sich, während sie ihm behutsam das Fell kraulte, wie seine Augen damals aus dem Dunkel der Kiste aufgetaucht waren, und wurde furchtbar traurig dabei.
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