Und tatsächlich schien der neue Hofgärtner der Pfaueninsel so weit von all dem entfernt, was in den letzten beiden Jahren geschehen war, daß ihm wohl die Frage Maries nach den halkyonischen Tagen nicht mehr eingefallen wäre, wenn er sich denn zu erinnern versucht hätte. Statt dessen sprach er mit Begeisterung von einem Garten, der auf Blumen und Blüten, auf Samenstempel und Duft gänzlich verzichtete und den Blattpflanzen ihren verdienten Raum gäbe.
»Ihre Anwendung würde uns, nach und nach freilich nur, denn die Gewohnheit beherrscht die beinahe allmächtige Mode, von den Linien der Einfassungen, von der beinahe störenden Symmetrie der Blumenbeete neben der schönen Freiheit der Baum- und Strauchgruppen befreien. Wir würden die ununterbrochenen Zirkelstücke verlieren, denn diese Pflanzen breiten sich da- und dorthin, ohne daß wir sie zwingen können, in den vorgeschriebenen Linien zu bleiben.«
Gustav entwarf die Vision eines Gartens, wie er ihn sich vorstellte. Auf eine erste, unterste Ebene gehörten »Begonie, Iris, Kürbis, besonders der schwarzkörnige Angurea-Kürbis, der durch den Hofgärtner Sello auf Charlottenburg zur Bekleidung der Laubengänge benutzt wird, sodann Zwergformen der Sonnenblume und die deutschen Farne, Cypergras für Sumpfgelände, Teichrose und Seerose für Wasserflächen, Flußampfer, Hainampfer für feuchten Boden.«
Er machte eine Pause, um sich zu räuspern. Vor diesem Teil seines Vortrags hatte er am meisten Angst gehabt. Was würde geschehen, wenn er seine Träume hier vor all den Praktikern ausbreitete? Doch ein Blick in die Runde beruhigte ihn. Kein Mißfallen, nur gespannte Neugier war auf den Gesichtern zu sehen, von denen er die meisten schon seit Kindertagen von Besuchen mit dem Onkel in ihren Revieren kannte.
»Auf einer zweiten Stufe sehe ich spanische Artischocke, Taglilie und Rhabarber in der Vielfalt seiner Arten. Ja Rhabarber! Und darüber rotblättrige Melde, Teufels-Krückstock, Zimmer-Calla für’s Wasser, Papyrus für den Sumpf, Stechapfel, Bergbärenklau, Eselsdistel, rauhen Beinwell, Adlerfarn, rotstacheligen, geränderten und auch jenen geschlitztblättrigen Nachtschatten, den Forster von seiner Weltreise mitgebracht hat. Und schließlich, auf der höchsten Stufe, Erzengelwurz, Pfahlrohr, Federmohn, krause Malve, Tabak, amerikanische Kermesbeere, die verwachsene Silphie, Becherpflanze, Zuckerhirse, Tithonie.«
Damit war er zu Ende, und im selben Moment begann sein Herz wieder zu klopfen. Während er in dem Schweigen, das seinem Vortrag folgte, auf seinen Platz zurückkehrte, befürchtete er, man werde, vielleicht mit etwas Gemurmel und Geklopfe, einfach zum gemütlichen Teil übergehen, doch als er sich schon darauf einstellte, daß es so kommen werde, begann langanhaltender Applaus, und er wußte: Es war überstanden, die Nachfolge des Onkels angetreten. Was gewesen ist, zählt von heute an nicht mehr, dachte er triumphierend.
Und dennoch wurde ihm mitten im Applaus plötzlich schwer ums Herz, und er mußte, vielleicht, weil die verwachsene Silphie seine Erinnerung angestoßen hatte, an Marie denken. Dann aber gab er sich selbst einen Ruck, sprang auf, trat an die Schranke, bedankte sich für die freundliche Aufnahme und erbat noch einmal für einen Moment die Aufmerksamkeit der hochgeschätzten Kollegen.
»Wir haben so manche schöne Rankpflanze und sehen sie so wenig in unseren Gärten«, sagte er. »Die künstlichen Lauben sind verworfen worden, die Mühe, welche das jährliche Herabreißen der abgestorbenen Ranken machen würde, hat sie von den Bäumen der Haine und den Sträuchern abgehalten, die Arbeit, die das immerwährende Anbinden herbeiführen würde, bewahrte unsere Anlagen vor steifen Spindeln oder Pyramiden. Hier sollten wir nicht säumen, mit einigen Stäben, ein wenig Draht und Schnur, grün gestrichen, zierliche Spaliere, Lauben, Fächer, Mäntel und wie all diese kleinen Baulichkeiten heißen mögen, wieder aufzuführen. Die oft vergessene wohlriechende Wicke, die brennende Kapuzinerkresse, die verachtete Scharlachbohne, die mannigfaltigen Prunkwinden, die alte amerikanische Glyzinie, die schnell verbreitete Maurandie, die seltene dreifarbige Alstroemerie, die windende Bomarie sind wohl die vorzüglichsten Klimm- und Rankpflanzen, um auch hier uns noch an die Lianen der Tropen erinnern zu lassen.«
Neuntes Kapitel. Zeit vergeht
Wie Tiere einen ansehen. Nichts, nicht einmal zu lesen beruhigte Marie so wie ihre Blicke. Deshalb kam sie immer wieder hierher zu den Käfigen, und am liebsten zu den Affen. Sah auch gleich, daß wieder ein Kapuzineräffchen darunter war, und schon kam es zutraulich heran mit seinen großen, gänzlich schwarzen Augen, Marie hielt ihm ein paar Nüsse hin und betrachtete sein nacktes Gesicht. Die Augen der Menschen waren etwas völlig anderes. Immer hatte sie ihre Blicke auf sich gespürt, doch mit dem Tod Christians und als man ihr das Kind weggenommen hatte, war das plötzlich zu Ende gewesen. So, wie sie irgendwann nicht mehr hatte weinen können. Dem spürte sie nach, während sie dem Affen weitere Nüsse auf der flachen Hand hinhielt, wie man einem kleinen Schmerz nachsann, der zum ersten Mal auftritt und nicht mehr weggehen will, wobei sie aber ganz im Gegenteil der seltsamen Empfindung nachspürte, daß dieser Schmerz tatsächlich verschwunden war.
Und mit ihm der böse Zauberklang jenes Wortes, das sie ihr Leben lang geängstigt hatte. Jenes Wort, mit dem diese Geschichte damals begann und dem wir gefolgt sind zu ihr und in dem wir sie begafft haben, ebenso, wie wir in dem Wort Königin jene junge Frau mit den flackernden Wangen begafft haben, die nun schon über ein Vierteljahrhundert tot war. Monster. Nichts bedeutete dieses Wort nun noch für Marie.
Ein Pfiff, wie sie ihn noch nie gehört hatte, schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Im selben Moment schwoll das Geschrei der Affen zu einem unerträglichen Tohuwabohu an. Und noch einmal dieser Pfiff. Marie sah sich beunruhigt um, wenn sie auch sogleich wußte, worum es sich handelte: eine Lokomotive! Die Berlin-Potsdamer-Eisenbahngesellschaft führte eine erste Probefahrt auf der sechsundzwanzig Kilometer langen Strecke von Potsdam nach Zehlendorf durch, der ersten Bahnstrecke in Preußen überhaupt, seit Monaten Gesprächsthema auf der Insel. Einige Wochen später, im Herbst 1838, las Marie dann in der Vossischen Zeitung von der ersten Fahrt. Sechzehn Wagen wurden von den beiden Lokomotiven ›Adler‹ und ›Pegasus‹ gezogen. Auf dem vordersten Wagen wehten Fahnen in den preußischen Farben und mit dem preußischen Adler geschmückt. Als um 12 Uhr der Zug sich in Bewegung setzte, befand sich auf dem ersten Wagen ein Musikkorps, und es ging vorwärts unter schmetterndem Hörner- und Trompetenklang und den Freudenschüssen aufgestellter Böller. Einige Reiter versuchten eine Zeitlang, den Wagenzug zu begleiten, doch schon nach wenigen Minuten konnten die erschöpften Pferde nicht mehr in gleicher Schnelligkeit folgen. In nicht voll 22 Minuten war der Anhaltspunkt bei Zehlendorf, eine Strecke von 3850 Ruthen, erreicht. Nach einem etwa halbstündigen Aufenthalt wurde die Rückfahrt nach Potsdam angetreten.
Die Pferdepost auf den märkischen Chausseen hatte nun mehr und mehr ausgedient, denn innerhalb kürzester Zeit entstand ein weitverzweigtes Eisenbahnnetz, das, mit Berlin als seinem Mittelpunkt, über Jüterbog nach Wittenberg, nach Eberswalde, nach Frankfurt an der Oder, nach Angermünde und Stettin, nach Magdeburg und nach Hamburg reichte. Und auch die Ausflügler kamen nun an den Besuchstagen mit Sonderzügen zur Pfaueninsel, die an der Behelfsstation Machnower Heide hielten. Von dort fuhr oder ging es über Wilhelmsbrück weiter, der Weg führte durch tiefen Sand, in dem die Pferde der schwerbepackten Chaisen sich mühen mußten. Im Sommer war die Hitze erstickend. Aus Mitleid stiegen die Herren aus.
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