«… nicht zuletzt für die Schiffbrüchigen und Obdachlosen, die es noch lange, lange geben wird, an diese Küste geworfen aus einem Meer voller Bedrängnis, einem Meer, in dem man ersticken kann, ohne zu sterben.«
Für einen Moment hatte Ed das Gefühl, Kruso sein Beileid aussprechen zu müssen. Aus irgendeinem Grund empfand er Mitleid und schämte sich sogleich dafür. Schließlich war es sein Bruder, der hier sprach, voller Leidenschaft, und hatte er nicht recht, in jenem tiefen, sehr tiefen Sinn? Trotzdem wirkte es, als stünde er auf einer großen Eisscholle, die immer weiter hinaustrieb, während er ihnen die Mittel zur Freiheit aufzählte (der Klausner, die Insel, das Meer) und die Mittel zur Knechtschaft (Valuta).
«Ich möchte jetzt nur so viel sagen: Unsere Kräuter gedeihen. Die Pilze wachsen, die Suppe kocht, die Zimmer sind bereit — wir verfügen über eine schöne Anzahl von Schlafmöglichkeiten, im Grunde mehr als jemals zuvor, nicht wahr, Werner? Und bald wird auch das ganze Bettenhaus frei sein. Und so sollten wir es sehen. Alles wird sich beruhigen. Der Herbst ist da, der Winter liegt vor uns, und ihr seid bereit, und dafür möchte ich euch danken!«
Etwas war in Gang gekommen. Erdteile verschoben sich. Zu fünft würde es nahezu unmöglich sein, den Klausner zu betreiben. Die Erwähnung des Winters bedrückte Ed. Weihnachten, Geschenke, Kälte, irgendein großes Bedauern, eine große Traurigkeit. Als hätte er Vorsorge treffen müssen, und nun war es dafür zu spät. Krusos Scholle war inzwischen weit draußen, weshalb sie ihn nicht mehr verstehen konnten. Nur noch sein Umriss am Horizont, das blasse Leuchten seiner Wangen, das Öffnen und Schließen des Mundes.
Noch einmal goss Chris Korn in ihre Frühstückstassen, Korn und Kirsch-Whisky, halb und halb, wie es Koch-Mike am liebsten mochte.
«Warum ziehen der Mond und der Mann — «
«zu zweit so bereit nach dem Meer!«
Ein paar Stimmen fehlten. Sie erhoben sich und tranken. Ed kannte Loschs Wange (groß, weich, unrasiert), aber jetzt fühlten sich seine Umarmungen anders an als damals, als es noch um ein Foto gegangen war und um Gedichte und um jemanden, den man vermisste, mehr als alles auf der Welt.
Es begannen die Tage der Notbesatzung. Am Morgen entfernte Kruso die unbesetzten Stühle vom Personaltisch und verteilte sie in der Gaststube. In den Augen Eds verharrten sie dort, die Fortgegangenen, an verschiedenen Tischen, wie Ausgestoßene, obwohl sie es doch gewesen waren, die sich entschlossen hatten, von Bord zu gehen (wie Krombach es ausdrückte).
Sie hielten die Stellung. Chris im Service, Rolf in der Küche, Ed im Abwasch, Kruso am Tresen und Krombach, der die Betriebsurlauber besänftigte. Noch immer führte er mittwochs den sogenannten Heimabend durch, zu dem er Inselgeschichten erzählte und seine grauen Herzen sprechen ließ. Ohne hinzusehen, mit den Armen über Kopf, knotete er Herz für Herz und warf sie den Urlauberinnen in den Schoß. Er blühte auf an diesen Abenden. Ed sah ihn später noch auf der Terrasse mit einigen Gästen, er hörte ihre Stimmen, Gekicher, wie von weit her, ein Lachen aus einer schon lange vergangenen Zeit. Am Ende saß nur noch eine kleine, rundliche Urlauberfrau mit leuchtend weißer Strickjacke an seinem Tisch, die Krombach umschlungen hielt, als wäre sie sein allerletzter Halt. Sein halbkahler Schädel phosphoreszierte im Licht der Terrassenlaternen, vielleicht vom Exlepäng, dachte Ed. Er musste an jenen Schwimmer denken, der bei seiner Flucht über zwanzig Kilometer Richtung Nordwesten geschwommen war und sich um Mitternacht an eine Fahrwassertonne geklammert hatte, deren gasbetriebene Lampe genug Wärme abgab, um ihn vor dem Erfrieren zu bewahren. Cavallo hatte ihm diese Geschichte erzählt und auch den Namen des Mannes genannt, Mittelbauer oder Mitbauer. Am Morgen, als Mitbauer weiterschwimmen wollte, um die verbleibenden Kilometer in Angriff zu nehmen, sei ein großes Lübecker Fährschiff namens» Nordland «vorbeigekommen. Von der Reling (haushoch über ihm) hätte der Kapitän der» Nordland «den Flüchtling gefragt, ob er ihn ein Stück mitnehmen solle.
«Was, glaubst du, hat der Schwimmer geantwortet, Ed?«
«Was?«
«Warum nicht. Er sagte: Warum nicht.«
Die Antwort des Schwimmers hatte Ed über alle Maßen gefallen.»Warum nicht «war ein feines Ja, das die möglichen Gründe für ein Nein offensichtlich erwogen hatte. Warum nicht. Bei Cavallo hatten die Fluchtgeschichten einen anderen Klang gehabt als bei Kruso, bei ihm waren es gute, befriedigende Geschichten.
Ed sah noch einmal auf die Terrasse hinaus und begriff, dass bei Krombach kein Schiff mehr vorbeikommen würde. Die weiße Strickjacke war Endstation. Allerletzte Boje.
Am Vorabend der Ruhetage war Ed restlos erschöpft. Wieder war es nötig gewesen, im Ausschank einzuspringen, weshalb er einen Teil des Geschirrs erst nach Dienstschluss abwaschen konnte,»wegbaggern den Dreck«, so hatte Rick es genannt. Die Speisereste auf den Tellern waren versteinert und die Kaffeeränder wie eingebrannt in den Tassen. Sofort nach der Arbeit legte er sich auf sein Bett. Sein nasses, schmutzverkrustetes Baumwollzeug verströmte einen üblen Geruch; nach Monas Abschied hatte es keine Wäschewechsel mehr gegeben. Ihm dröhnte der Schädel, und er hatte das Rauschen in den Ohren. Noch einmal verließ er sein Zimmer und stieg die Klausnertreppe hinunter, seit Tagen war er nicht am Meer gewesen.
Auf dem Rückweg hatte er einen Schwächeanfall.»Oktober, und die letzte Honigbirne / hat nun zum Fallen ihr Gewicht. «In der Übermüdung meldeten sich seine Bestände zurück, ausgesprochen sanft und, wie sollte er es sagen, verständnisvoll . Sie okkupierten ihn nicht mehr. Die Treppe hinauf glaubte er kippen zu müssen, rückwärts ins Meer. Er spürte eine angenehme Schwere im Schädel und eine plötzlich verlockende Schwäche, voller blitzender Reste seiner alten, längst überwundenen Fallsucht. Er sah sich um. Auf dem Wasser lag ein Pokal aus Silber, der mit dem Fuß bis ans Ufer reichte. Eine schwarze Säule stützte den Mond.
In weitem Bogen umkreiste Ed den Klausner und betrat vom Hof her den Abwasch. Das Licht in der Küche ließ er ausgeschaltet, zur Orientierung genügte ihm Viola, die ein Konzert von Händel spielte. Er nahm sich eine Zwiebel aus dem Kühlschrank und kratzte die Reste aus der Kartoffelpfanne zu einem kleinen, fettigen Häufchen. Dann setzte er sich auf den Stuhl unter dem Radiokasten. Und so, mit der Pfanne auf dem Schoß, gelehnt an den Kühlschrank, fand er endlich in den Schlaf.
Deutschlandfunk
26. September. Es ist sieben Minuten vor Mitternacht. Wie ein Märchen brachte Viola das Programm des kommenden Tages. Der sanfte Bass des Erzählers, zuerst knarrte er nur ein wenig, aber dann schrammte er hörbar am Grund der Dinge entlang. Jedes Wort schien ihm gleichermaßen wertvoll, jeder Satz war wie mit tauben und zugleich väterlich weichen Lippen gesprochen. Ed lauschte und ließ die Stimme in sich ein. Er träumte von der Zeit, da er ein Kind gewesen war und versucht hatte, mit den Außerirdischen Kontakt aufzunehmen. Damals hatte er das Kofferradio vor sich auf den Schreibtisch gestellt, im Kinderzimmer. Er hatte auf Kurzwelle geschaltet und den Äther abgesucht, millimeterweise mit dem weißen Senderwählrad zwischen den Fingern, so lange, bis ihr Signal ertönte. So weit die Programmvorschau. Deutschlandfunk. Zum Tagesausklang die Nationalhymne. Um null Uhr melden wir uns wieder mit — Nachrichten. Ab und zu verstummte das Funken der Außerirdischen, was Ed als Aufforderung begriff:»Hallo, hallo, hier bin ich, bitte kommen. Ich lebe auf der Erde, in Gera-Langenberg, Charlottenburgweg 24, Deutsche Demokratische Republik, könnt ihr mich hören? Bitte kommen. Over.«
Die Nationalhymne war unsäglich schön, und wie zur Feier rief sie das Verbotene herbei, den alten, sehnsuchtskranken Text von Deutschland über allem, Musik und Text schienen untrennbar zu sein. Er dachte das Wort: untrennbar. Dr. Z. hatte darüber gesprochen in seinem Seminar. Wie der Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben auf einer ehemals englischen Insel gesessen und von dort im hohen Norden (sehnsuchtskrank) auf sein zerrissenes Land geschaut hatte. 0 Uhr. Deutschlandfunk — die Nachrichten. Die Perestroika in der UdSSR kann nach den Worten des Staats- und Parteichefs Gorbatschow nicht länger als Revolution von oben bezeichnet werden. Einfache Lösungen für enorme Probleme zu versprechen hieße, das Volk zu täuschen. Disziplin sei mehr denn je notwendig. Es war nicht leicht, die Druckknöpfe zu lösen, aber irgendwann gelang es Ed, den kleinen hölzernen Kasten des Transistors aus seiner steifen Lederschutzhülle zu befreien. So konnte er besser hineinflüstern in den Empfänger:»Hallo, hallo, wo seid ihr, wann kommt ihr? Over. «Sein Mund berührte die metallene Lautsprecherabdeckung und hinterließ einen feuchten Abdruck. Es kribbelte an den Lippen; die Außerirdischen hatten wieder zu funken begonnen …
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