Die kleinen einfachen Gerichte waren beliebt, und Rolf kämpfte seinen einsamen Kampf in der Küche. Die Verkürzung der Karte hatte man hingenommen, wie auch sonst alles hingenommen wurde, im Grunde nicht nur hingenommen, sondern empfangen wie ein Glücksbeweis: Die rote Brause war schal, aber doch auf der Insel serviert, der dünne Kaffee schmeckte ganz ausgezeichnet, weil er bewies, dass man es geschafft hatte bis hierher , auf diese Terrasse, hoch über dem Meer, dem reizvollsten Ausblick des Landes, ein Tag, der unvergesslich bleiben würde.
Andererseits schien es, als kippten die Gäste der Spätsaison den Inhalt ihrer Tassen und Gläser immer schneller hinunter, als wollten sie diesen seltsamen Sommer rasch zu Ende trinken. Am Ausschank häuften sich die Bestellungen, Kruso fluchte, weshalb Ed den Abwasch irgendwann aufgab und seinem Freund zu Hilfe eilte. Es war ihr täglicher Kampf, in dem Ed die Tiefe ihrer Verbindung spürte, die wenigen Worte, zufälligen Berührungen (wie äußerste Zärtlichkeiten), ein nahezu blindes Verständnis, wenn sie gemeinsam bewiesen, dass der Klausner unsinkbar war.
19. September. Zwei Wochen waren seit dem Abgang Koch-Mikes verstrichen, als Rimbaud nicht zum Frühstück erschien. Rolf schenkte Kaffee aus und bot an, in der Bienenhütte nachzusehen, um den Kollegen zu wecken, der sich wohl am Abend zuvor» die Augen zugekippt «hätte, wie er sich ausdrückte. Kruso machte eine Kopfbewegung zur Tür, sah dabei aber zu Ed hin, als säße dort sein Mann für solche Dinge.
Ein verzweifeltes Geräusch, das die gesamte Lichtung erfüllte; es schien aus der Erde zu kommen und nicht von den Bienenvölkern her. Tote Königin, dachte Ed, ohne zu wissen, weshalb. Er rief nach Rimbaud. Langsam öffnete er die Tür, und ein süßlicher Dunst schlug ihm entgegen. Das Bett war zerwühlt, es roch nach Schlaf und Speiseresten. Als wäre er nur deshalb gekommen, trat Ed an das Bücherregal, und erst jetzt bemerkte er es. Auf jeder Etage des Regals lagen zerbrochene Waben, aus denen Honig über die Bücher troff. Rimbauds kleine Bibliothek (nicht mehr als zweihundert Bände) glich einem weichen, golden fließenden Block und darin einem lebendigen Wesen, zäh, organisch, äußerste Hülle eines phantastischen Embryos. Der Nektar rann stetig, unvermindert, als ob in den Waben ein unbegrenzter Vorrat herrschte oder als ob er inzwischen auch aus den Büchern selbst hervorquoll. Die Bücher wirkten sehr zufrieden unter dem süßen, trüb-mäandernden Fließen, wie versonnen oder nachdenklich.»Zum Trost«, murmelte Ed, denn der Honig schien die Bücher zu trösten, ja, Honig und Bücher gehörten zusammen, Bücher und Honig, ein einzigartiges Ambrosia. Aber das täuschte natürlich. In Wahrheit waren die Bücher so traurig wie verschütteter Honig. Ab jetzt, so dachten die Bücher, wird es keinen Kellner mehr geben, der uns in den Abwasch trägt, um den Tellerwäschern vorzulesen, und es wird keine Tellerwäscher mehr geben, die uns mit Gedichten zu antworten verstehen, das heißt, die Gedichte der Tellerwäscher wird es nie wieder geben auf dieser Welt, mithin keine Hoffnung auf ihre Bücher, und so ist der Zirkel zerbrochen.»Nein, noch nicht, noch ist etwas Zeit«, flüsterte Ed,»das verspreche ich euch.«
Die Honigbibliothek. Ed hätte nicht sagen können, wie lange er in ihrem langsamen Verrinnen, diesem sanftesten Zugrundegehen, versunken war. Weil er noch nicht zurückkehren wollte, setzte er sich an den kleinen Tisch unter dem Fenster, auf dem ein Bleistift und einige Runen lagen, vielleicht vom Tag der Insel oder von Vergaben früherer Zeit. Sein Fuß stieß gegen einen Kohleeimer, wie er in der Bienenhütte, in der es keinen Ofen gab, eigentlich nichts verloren hatte. Er zog ein paar zerknüllte Blätter aus dem Eimer und strich sie glatt. Auf den meisten stand nur eine einzige Zeile, eine Art Überschrift, sonst nichts.»Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Hebr. 13,14«Ed erkannte den Satz, es war das Motto über der Leichenhalle auf dem Inselfriedhof. Auf einem anderen Blatt fand sich eine kurze Abhandlung über Bienen. Darunter eine Zeichnung von einem bienenartigen Mann, dessen Brust von feinen Härchen bedeckt war; sein Bienengesicht zeigte Verbitterung oder wenigstens Ärger. Zwei seiner Gliedmaßen mündeten in Füße, die er vor dem Geschlecht zusammenpresste (oder der Stelle, an der das Geschlecht zu vermuten war). Es sah aus, als riebe er die Fußsohlen gegeneinander. Man hätte ihn für einen Buddha halten können, womöglich eine Anspielung auf den bacchantischen Kult der Esskaas rund um den buddhistischen Baum, aber aus seinen Fußzehen wuchsen feine, zu Widerhaken gebogene Krallen, und sein Bart endete in einem Dreizack — ohne Zweifel das seltsamste Wesen, das Ed je zu Gesicht gekommen war.
Wortlos legte Ed das Blatt mit dem Bienentext und der Zeichnung neben Krombachs Teller (versehentlich dort — es war der alte Respekt vor dem Direktor), doch Krombach gab die Seite blicklos weiter an Chris, der sie zu Krusos Tischende hinschob. Kruso bedankte sich, seltsam förmlich, wie jemand, der sich ermahnen muss, auf seine Würde zu achten. Vorsichtig hob er das Papier ins Licht, warf einen Blick darauf und legte es wieder ab. Er kaute mit gesenktem Kopf, schluckte, nahm das Blatt noch einmal zur Hand und begann vorzulesen.
«Die Geschlechtstiere der Honigbiene …«, Kruso schluckte und begann erneut.»Die Geschlechtstiere der Honigbiene — Königin und Drohnen — legen zur Verpaarung große Strecken zurück. Eine Königin lässt sich von mehreren Drohnen frei im Flug begatten. Um eine Verpaarung von Tieren mit besonders vorzüglichen Eigenschaften vornehmen zu können, müssen Orte gefunden werden, deren Gegebenheiten einen Zuflug nicht erwünschter Drohnen unterbinden, Inseln zum Beispiel. Zuchtziele sind Rassen voller Fleiß, Sanftmütigkeit und geringer Neigung zum Schwarm — Eigenschaften der Apis mellifera carnica , der Rasse Hiddensees.«
Der Kühlschrank am Tresen schaltete sich ein und übertönte das Geräusch des Winds in den Kiefern. Die ersten Herbststürme kündigten sich an.
«Diese Botschaft«, erklärte Kruso,»beweist, dass Rimbaud über kurz oder lang zurückkehren wird.«
Es war zu spät, um zu erwähnen, dass die Botschaft aus dem Kohleneimer stammte. Gleichzeitig musste Ed sich fragen, warum er das Papier so sorgfältig glattgestrichen und wie eine Petition vom Bienengrund heraufgebracht hatte.
«Einige verlassen uns jetzt«, begann Kruso leise. Er stand auf, und sein Gesicht verschwand im Dunkel über der Gaststubenlampe.»Nicht wenige darunter, die wir gebraucht hätten, ja, die dringend gebraucht werden hier. «Er stützte die Hände auf den Tisch, und seine großen verletzlichen Wangen kehrten zurück ins Licht.
«Einige werden wiederkommen, viele sogar. Sie haben die Insel im Stich gelassen, ja, aber bald werden sie begreifen, dass auch mit Valuta … «
Selbst aus Krusos Rede schimmerte das Wort wie ein Goldstück im Dunkel, es glänzte und klimperte verstohlen, und es roch gut , Valuta, Geld aus dem Westen, welch satter, gediegener Klang, Geld aus dem Osten dagegen war Schweinetonne und Aluminiumbesteck …
Als hätte Kruso diesen Gedanken erraten, unterbrach er sich und schaute auf Ed hinunter.»Nur die Trugbilder der Freiheit haben einen Preis. Die Freiheit aber ist unbezahlbar. Und sie besteht in erster Linie aus Pflichten, verdammt, nicht aus Privilegien. «Er hatte seinen» Was-sich-mit-Worten-kaum-sagen-lässt-Ton «fallenlassen.
«Formulieren wir es lieber so: Die uns jetzt verlassen, leugnen die Verantwortung, die sie haben für diesen Ort, sie denken nur an sich selbst. Und nun seid ihr es, die das alles tragen, ihr, mit eurer Arbeit, jeder an seinem Platz …«
«Schon gut, ist ja gut«, murmelte Chris und goss Schnaps in ihre Kaffeetassen. Rolf blickte zu Boden und sah blass aus, er hatte seinen Stuhl vom Tisch abgerückt.
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