Eine Seitentür des FDGB-Hotels» Zur Ostsee «stand offen. Ein dunkel getäfelter Raum, wenig Beleuchtung, die weißen Tischdecken wie kleine Segel, halb verloren im Saal. Ein Kellner, der Besteck sortierte, gebeugt über einen ebenfalls holzgetäfelten Kasten mit Fächern für Messer, Gabel, Licht. Ed sah zu Boden und schlich vorüber. Er ging so weiter, in dieser Haltung. Schwarze und weiße Fliesen aus Stein im Eingang zur Lobby, die Vorstellung von Kühle und einem besseren Leben.
Die Tür zur Meldestelle. Einen Moment zögerte Ed, dann trat er in den Flur. Die Frau hinter dem Schreibtisch hob den Kopf und lächelte breit.
«Gehen Sie doch bitte gleich nach hinten durch!«
Sie musste vertraut sein mit dem Ablauf des Ganzen, weshalb Ed ihre eigenartige Fröhlichkeit als einen halbseidenen, vielleicht verzweifelten Versuch verstand, sich ihrer Rolle zu entziehen.
Die Tür zum Hinterzimmer war nur angelehnt, der Hygienekommissar kam ihm entgegen. Auf halbem Wege riss er wie ein Verkehrspolizist bei der Arbeit die Arme in die Luft und nannte zum ersten Mal seinen Namen:»Rebhuhn, bitte!«Seine Rechte deutete auf einen Stuhl, der offensichtlich für Ed bestimmt war, die Linke zeigte seinen eigenen Platz. Sie saßen sich gegenüber, zwei Seiten eines blanken, langgezogenen Tisches, um den noch zehn oder zwölf weitere Stühle standen.
«Wie geht es Ihnen, Herr Bendler?«
Für einen Moment musste Ed daran denken, wie verhalten und schweigsam das Personalfrühstück in letzter Zeit ausgefallen war. Die Stirnseiten unverändert: Koch-Mike und Krombach, wie Brückenköpfe. Der eine in seinem Schweiß, der andere in einer Wolke aus Exlepäng und Gesichtscreme. Auf Eds Seite waren nur noch Rolf und er selbst übriggeblieben, ein paar Stühle weit voneinander entfernt, da die Sitzordnung noch immer eingehalten wurde. Links von ihm fehlte das Tresenehepaar, rechts von ihm fehlte René. Sie waren von ihm abgerückt , und er selbst hatte Schuld daran … Manchmal überwältigte ihn dieser Gedanke.
«Herr Bendler?«
Der Kommissar trug die schwarze Lederjacke mit den vielen praktischen Taschen. Die Heliomaticgläser schimmerten in einem sanften Hellbraun. Auf dem Stuhl an der Stirnseite der Tafel stand ein flacher Aktenkoffer, als sei er es, der ihrem Treffen vorsitze.
Ed strich sich die Haare aus dem Gesicht, seine Wunden waren verheilt. Er wusste nicht, was er antworten sollte.
«Die gute Behandlung bei Professor Rommstedt, nicht wahr? Haben Sie länger mit ihm gesprochen? Wie schätzen Sie ihn ein? Früher hatten wir dort einige Probleme, was immer sehr schade ist — bei einem so exzellenten Wissenschaftler, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wir brauchen die Wissenschaft! Mehr denn je. Wir brauchen Hand, Herz und Hirn! Sicher haben Sie gehört von unserem Mikroprozessor, 32-Bit! Ochs und Esel!«
«Ich war noch bewusstlos während der — Behandlung. Und was ich sagen wollte …«
«Sicher. Ihnen fehlte das Bewusstsein, Herr Bendler. Aber langsam wird es Zeit, dass Sie aufwachen. Wie geht es übrigens Ihrem Freund, jetzt, nach seiner glücklichen Heimkehr?«
Ed sah zum Fenster. Ein schlammiger Hof mit breiten, tiefen Spuren, als wäre ein Lastkraftwagen lange im Kreis gefahren. Mitten in dem Schlammkreis stand ein ausrangiertes Fuhrwerk, daneben die grüne Schwalbe des Inselpolizisten, der Sturzhelm am Lenker. Das Meer war höchstens hundert Meter entfernt, aber er konnte es nicht hören.
«Wie schaffen Sie es jetzt da oben, im Klausner? Und was treiben Sie sonst so, zum Beispiel am Abend? Sind Sie wieder bei den Gedichten? Oder zeichnen Sie Karten? Ansichtsmaterial für Schiffbrüchige und Obdachlose, wie Ihr Freund das nennt, so fürsorglich und liebevoll er eben ist mit seiner slawischen Seele, nicht wahr, Herr Bendler? Also, machen Sie aus Ihrem Herzen keine Mördergrube!«
Rebhuhn. Eine seltsame Wahl, wenn der Name erfunden war, dachte Ed. Er fragte sich, ob es im Aktenkoffer ein Tonband gab, das die Selbstkritik, die er mit Hilfe seines Fuchses vorbereitet hatte, aufzeichnen würde. Wieder hatte er das B 56 vor Augen, das tschechische Tonbandgerät seines Vaters in der Schrankwand, die kleinen Hebel zum Spulen und die feuerwehrrote Aufnahmetaste — Don't cry for me, Argentina , oft hatte Ed zu diesem Titel zurückgespult und …
«Ich sage es mal so, nur unter uns, gewissermaßen. Wäre Ihr Freund nicht so durch und durch slawisch — oder wie soll ich es nennen, Herr Bendler? — , dann würde er hier schon lange nicht mehr frei herumspazieren, das ist Ihnen doch klar? Oder nennen wir es: Sowjetische Gerichtsbarkeit. Ein Vater im Potsdamer Russenstädtchen, herrjemine! Ein General! Aber das wissen Sie längst. Nur wir hier haben den Ärger, die Arbeit, an uns bleibt alles hängen, als wären wir hier Sachalin oder St. Helena! Aber nicht nur an uns, auch an Ihnen, dem Professor, dem Klausner, allen, die er hineinzieht in seinen Kreis, und genau das, Herr Bendler, scheint Ihnen nicht bewusst zu sein, welche Gefahr …«
Zuerst die Stimme des DJs, sein künstlicher Eifer, der auch vom stillen, leise wogenden Auftakt des Songs nicht zu stoppen gewesen war und also für immer die ersten Takte beschmutzte. Aber da lag Ed schon auf dem Teppich, mit ausgebreiteten Armen, in Erwartung der außerirdischen Stimme einer Sängerin namens Julie Covington. Er war 14 Jahre alt, und eigentlich hasste er alles, was Schlagermusik genannt werden konnte. Aber jetzt lag er nur da, auf dem Teppich, und bald begannen die Tränen zu fließen.
«Alexander Krusowitsch ist mein Bruder.«
Es war nicht gerade das, was er hatte sagen wollen.
Nicht gerade das, was er vorbereitet hatte.
Aber es war sein Satz. Ein ziemlich guter Satz.
Noch immer schaute er zum Fenster hinaus.
Über den Traktorspuren im Hof kreiste bereits sein zweiter guter Satz:
«Sind wir nicht alle Slawen, bis zur Elbe, Herr Rebhuhn?«
Im nächsten Moment wusste er nicht mehr, ob er Slawen oder Sklaven gesagt hatte.
Der Hygienekommissar starrte ihn an, dann sah er auf seinen Notizblock, als müsse er sich gewaltsam ablenken von der Erscheinung Eds und ihrer ganzen Widerlichkeit. Eine kleine schmutzige Saisonkraft, wankelmütig, labil, schwer einzuschätzen. Vom Studium getürmt, trotz guter Perspektive, und bisher nichts gelernt im Leben als ein paar Gedichte voller dumpfer, inzestuöser Verse.
Sie verließen die Meldestelle, aber es war nicht vorbei. Rebhuhn ging voraus. Unerträglich die Vorstellung, mit ihm gesehen zu werden. Zwei Radfahrer, Spaziergänger, Touristen auf ihrem Abendspaziergang nach dem Abendbrot, das in den Ferienheimen oft schon um 18 Uhr eingenommen werden musste. Sie betraten ein Haus, der Meldestelle schräg gegenüber. Ein kleiner schattiger Flur, an dessen Ende eine Treppe in den Keller führte. Zuerst ein niedriger, von Neonröhren ausgeleuchteter Raum, der mit seinen Bänken und Stühlen einem Klassenzimmer ähnlich sah. Es roch nach Desinfektionsmittel, vielleicht war es auch Rattengift. Ed spürte ein leichtes Vibrieren, dann hörte er den Brummton. Der Kommissar trat vor die Klasse und zog einen Stab unter dem Lehrertisch hervor. Einem Billardspieler ähnlich fixierte er die rot lackierte Spitze des Stocks, dreht sie leicht in der Hand und führte sie vor seinen Mund, als wollte er sie küssen. Schließlich spitzte er die Lippen und blies einen imaginären Rest von Kreide oder Staub vom Lack, der daraufhin zu leuchten oder zu glühen begann, aber das war nur ein Reflex im Neonlicht. Jeder seiner Handgriffe wirkte jetzt beiläufig und sicher, anders als oben in der Meldestelle. Erst jetzt schien Rebhuhn im Spiel. Er setzte sich halb auf den Tisch, seine Haltung war lässig und überlegen. Das Griffende seines Stabs pochte leicht und wie ungeduldig gegen Metall. Ed war am Eingang des Klassenzimmers stehen geblieben; ein Schüler in Erwartung seiner Strafe. Die Tafel so sauber, als wäre auf ihr nie geschrieben worden.
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