Ed bereute, gekommen zu sein. Er hätte sich weigern können. (Hätte er?) Er hätte es vergessen können, versehentlich, aber er hatte Angst gehabt und die Vorstellung, etwas hinter sich bringen zu müssen. Es brauchte einfach diesen Schritt, um zu beweisen, dass er den Kommissar nicht verachtete (was er in Wahrheit tat), und indem er ihm dieses Mindestmaß an Respekt entgegenbrachte (ihn tröstete, dachte Ed, hinwegtröstete über das Perfide und Hässliche seiner Erscheinung), wäre der Weg frei für den Rücktritt, die Erklärung seiner kompletten Unfähigkeit zur Konspiration. Eine Weigerung von vornherein hingegen wäre unmöglich gewesen, inakzeptabel. Zuerst musste man den Termin respektieren, dann den Kopf (vorsichtig, langsam) aus der Schlinge ziehen. Nur war jetzt auch die Angst wieder da. Blanke Angst, jenseits aller Gedanken.
Der Kommissar kam auf ihn zu, mit kleinen rhythmischen Doppelschlägen, erst gegen die Bänke, dann gegen die Wand. Eine bis dahin unsichtbare Tür ging auf, der Sesam öffnete sich. Alles Routine, dachte Ed, die übliche Routine. Seltsam war nur, dass er es erlebte, jetzt, in diesem Moment.
Das Brummen schwoll an, wurde laut, ein atemversetzender Gestank schlug ihnen entgegen, sie betraten den Maschinenraum. Rechts von Ed stand Rebhuhn, der den Maschinisten begrüßte. Die Maschine war ein Gestell aus Stahl in der Mitte des Raums mit einem unförmigen, milchig glänzenden Aufbau. Sie hatte einen Kopf, aber kein Gesicht. Keine Lippen jedenfalls und keine Ohren, nur Zähne. Sie hatte Haare, verklebt mit Sand und Algen, Reste von Gliedmaßen in alle Richtungen, durchscheinend und grau oder grün wie von Folie überzogenes Moos, ein aufgequollener Fuß. Etwas wie ein Fuß. Die Maschine war es nicht, die brummte, sie brummte nicht …
Ed wich zurück, er suchte den Ausgang, aber der Maschinist hinderte ihn und drückte ihm stattdessen einen weißen Emailleeimer vor die Brust. Zuerst hatte Ed geglaubt, der Mann wolle ihm den Eimer über den Kopf stülpen, aber schließlich hatte er nur versucht, ihm den Henkel über den Scheitel zu ziehen. Es schien ein extra weit ausgeformter Henkel zu sein, keine Frage, der Eimer war wie gemacht für diesen Fall. Trotzdem blieben ein paar Haare hängen, wurden ausgerissen. Noch während Ed sich übergab, begann der Hygienekommissar seinen Vortrag über die Maschine.
«Dieser Körper hat drei, mindestens zwei Wochen im Wasser gelegen … Herr Bendler, hören Sie, was ich sage?«
Ed spuckte.
«Gut, gut so. Können Sie bestätigen, Herr Bendler, dass es sich bei dem Toten«, sein Zeigestock kreiste über der Maschine,»um den vermissten René Salzlach handelt, Eisverkäufer im Betriebsferienheim Zum Klausner in Kloster, Hiddensee?«Seine Frage klang bemüht, beinah gelangweilt, als wäre das Ganze im Grunde schon nicht mehr von Interesse.
Die Maschine. Ein Batzen fauliges Gelee.
Der Kommissar versuchte, sich weiterhin pädagogisch zu verhalten, mit Erläuterungen zum Zustand des Toten und Blicken zu Ed hin, als müsse er seine Aufmerksamkeit überprüfen.
«René Salzlach ist ein typischer Fall, der typische Grenzverletzer, würde ich sagen. Wichtigstes Merkmal: Diese Leute neigen dazu, sich zu überschätzen, das ist ihr Charakter, nicht wahr, Herr Bendler? Deshalb unterschätzen sie die Strecke, die Kälte, das Meer. Und wir müssen sie dann retten, aber freilich können wir nicht überall, nicht immer rechtzeitig zur Stelle sein.«
In Eds Ohren dröhnte das Brummen des Aggregats (ein Kühlaggregat, wie sich herausstellte). Er umklammerte den Eimer und drückte ihn fester gegen seine Rippen. Er war jetzt das Kamel, das Kamel seiner Träume, mit einem Fressnapf um den Hals. Die rote Spitze des Billardstocks kreiste, dann ein paar Bögen, als schriebe sie etwas in die Luft. Die milchigen Reste Renés bildeten jetzt eine Fläche aus Glas oder Eis, auf der die Kugeln rollten, hin und her, und eine nach der anderen verschwand in den dunklen, verwesten Öffnungen der Maschine, ohne Geräusch.
«Woher aber, fragen wir uns, stammen diese Verletzungen, Herr Bendler?«Augenblicklich stockte das Schreiben, und die rote Spitze senkte sich auf das milchig-graue Gewese. Vom Würgen war Ed Wasser in die Augen getreten; ihn schwindelte. Er fror.
«Diese Hämatome zum Beispiel. Ohne Zweifel hat das Opfer sie sich vor dem Eintritt ins Wasser zugezogen. Für den Laien mag das schwer zu erkennen sein, selbst für mich, zugegeben, aber wir haben Experten, Herr Bendler, wir haben Labore, Schiffe, Taucher, wir haben 32-Bit, falls Sie verstehen, was ich meine!«
Erst die Berührung, dann die feine Schliere, die wie ein Spinnfaden den Zeigestock mit der Maschine verband. Ed glaubte die Besinnung zu verlieren. Die Knie wurden ihm weich. Er wollte sich auf den Boden hocken, aber der Maschinist trat von hinten an ihn heran und hielt ihn aufrecht. Der Henkel seines Eimers machte einen langen, quiekenden Laut.
«Herr Bendler, also, was meinen Sie? Vielleicht erinnern Sie sich nicht, nicht genau jedenfalls? Keine Angst, das geht allen so. Am Anfang. Aber dann kommt man doch ins Gespräch, und meist gibt es viel zu erzählen.«
Auf einem kleinen stählernen Tisch, der Räder hatte und wie ein Servierwagen herangerollt wurde, lagen die Papiere, die Ed unterzeichnen sollte. Es waren vier oder fünf Blatt. Als er sich nach vorn beugte, quietschte der Eimer.
Exodos
Am 5. September fehlte Koch-Mike beim Frühstück. Krombach erschien, räusperte sich und verlas einen Abschiedsbrief, der mit Fettstift und großen Druckbuchstaben auf ein Stück Packpapier gekritzelt war. Der Brief handelte von einer Frau und einem Kind, die in Bergen auf Rügen lebten, Koch-Mikes Frau, Koch-Mikes Kind. Es ging um eine gemeinsame Reise, die Chance auf einen Neuanfang nach soundso viel Jahren und so weiter. Am Ende stand ein Satz mit der Wendung» in diesen schweren Zeiten«, verbunden mit der Bitte um Entschuldigung» an alle«. Bis dahin hatte Ed noch nie etwas gehört von einer Familie. Er sah Koch-Mike vor sich, dem der Schweiß aus allen Poren rann, während er den Abschiedsbrief» An die Besatzung «schrieb, mühsam, wie eine seiner Bestell-Listen.
«Wie ihr wisst, war Koch-Mike die Zuverlässigkeit selbst und«, Krombach hatte zu einer Art Nachruf angesetzt, brach aber ab und beschränkte sich auf den Hinweis, dass es» unter den gegebenen Umständen «nahezu unmöglich sein würde, einen neuen Koch aufzutreiben.
«Wozu auch?«, flüsterte Kruso, er saß sehr gerade, aufrecht, wie immer. Seine Hände lagen links und rechts vom Teller, als müsse er den Tisch beruhigen.
«Rolf, was meinst du ?«Kruso wartete, bis der Hilfskoch ihn ansah.
«Erstens: das Menü. Ab heute kurz und einfach. Nur das, was du kannst, klare kleine Sachen. Zweitens: In der Stoßzeit könntest du, Werner, ab und zu in der Küche aushelfen.«
Krombach schwieg. Von Viola kamen Nachrichten, unverständlich, dann eine Meldung zur Verkehrslage, unverständlich, dann» In unserer Morgenandacht spricht Pfarrer Thomä aus Darmstadt«. Es war das erste Mal, dass Kruso offen das Kommando übernahm.
Nach Ferienende hatte der Urlauberstrom deutlich nachgelassen, vor allem die Zahl der Tagestouristen. Der Fahrplan für den Fährverkehr wurde umgestellt. Sie arbeiteten hart, und mühsam gelang es, den Klausner über Wasser zu halten. Ed genoss die Erschöpfung am Abend. Die süße Ruhe und keine größere Frage als die nach einem letzten Getränk, um noch eine Weile bewusstlos draußen auf der Terrasse zu sitzen. Schnell wurde es kühl, und um Mitternacht goss der Mond sein Licht in die Kiefernspitzen.
Wie man Alpträume vergessen will, wenn sie zu blutig sind, vergaß Ed den Traum vom verwesten Kamel. Eigentlich war es glatter als das, was man vergessen nennt. Mehr so, als säbele man etwas ab und es fiele irgendwohin, ins Dunkel der Zelle — noch da, aber unsichtbar. Was blieb, waren die Empfindung einer noch stärkeren Verbundenheit mit Losch und jenes unklar wuchernde Schuldgefühl, das René betraf. Auch ohne sein Zutun sprach sich herum, dass man ihn gefunden hatte, mit einem Fischernetz aus dem Wasser gezogen, in mehreren Teilen, wie es hieß. Auch andere Versionen wurden verbreitet. War Ed in der Nähe, verliefen die Gespräche wie gedämpft, Vermutungen wurden leiser und fragender vorgebracht. Man zeigte sich bereit, Rücksicht zu nehmen auf seine doch irgendwie unmittelbare Beteiligung an diesem Todesfall, dem endgültigsten der Abgänge in diesen Tagen.
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