Ricks träumerischer Blick und die dünnen, weit geschwungenen Augenbrauen, die an ihren Enden noch einmal eine kleine Kurve aufwärts machten, flößten jedem, der in die Aura seines Ausschanks geriet, Vertrauen ein. Rick strahlte Güte aus. Dabei war er ein Riese und auf den ersten Blick einfach zu groß, zu wuchtig für den Tresen. Aber sobald er mit Gläsern und Getränken in Kontakt kam, hatten seine Bewegungen etwas Geschmeidiges, Katzenhaftes; es machte Freude, ihm bei der Arbeit zuzusehen, jeder Handgriff schmeichelte seiner Umgebung. Allerdings füllte er den Platz hinter dem Ausschank nahezu vollständig aus, weshalb seine Frau Karola oft vor dem Tresen Stellung bezog, um ihre Arbeit von dort zu verrichten. Für sie schien das kein Problem zu sein. Auch zapfen konnte sie von vorn mit ihren schlanken Armen und die beiden riesigen Kaffeemaschinen bedienen, die Kaffeebomben, wie Rick sie nannte. Jede Bombe ergab vierzig Kännchen, pro Kaffeezeit wurden etwa dreihundert Kännchen ausgeschenkt (»gezogen«, sagte Rick), also sieben bis acht Bomben pro Tag.
Rick hatte die Weisheit und Karola die Mathematik. Sie hatte jeden Preis im Kopf. Für Bier (0,56 Mark), Korn (1,56 Mark) oder Fassbrause (einundzwanzig Pfennig das Glas) war das einfach, aber die Tresenfrau wusste es auch für jeden der unzähligen Weine, für all die Murfatlars, Cotnaris und Tokajer, gar nicht zu reden von den tschechischen, polnischen, russischen Schnäpsen oder den Perlweinen, die gerade in Mode gekommen und außerordentlich beliebt waren bei den Gästen.»Hat eben Köpfchen, die Kleine«, sagte Rick.
Karola war das, worunter sich Ed eine Berliner Pflanze vorstellte — stolz, herausfordernd, schlagfertig. Sie besaß einen schneeweißen Jeansanzug, den sie manchmal sogar während der Arbeit trug. Jede ihrer Bewegungen war energisch, und alles an ihr flößte Respekt ein, selbst ihr rotes Haar, das sie bei der Arbeit hochsteckte zu einem kleinen Turm, der bei jedem Schritt bedrohlich wankte, aber niemals fiel. Karola rechnete bei Krombach die Tageseinnahmen ab, und sie war es auch, die den Schuldenstand der Besatzung beim Tresen verwaltete — niemand sonst wäre dazu in der Lage gewesen.
Das Tresenehepaar hatte Ed von Anfang an sehr gut behandelt, fast liebevoll, Eltern ähnlich, oder jedenfalls auf eine Art, die er vermisste. Rick hatte ihn ausgewählt für den Getränkekeller, er war Ricks Gehilfe geworden, nicht Rolf oder René. Und Karola brachte ihm an jedem Tag frischen Tee in den Abwasch, und ab und zu gab sie Kruso und ihm ihre Eiswürfelmassage, während der Arbeit. Sie setzte das Eis wie ein Werkzeug an und machte damit eine lange, fließende Bewegung, als würde sie tranchieren.»Arbeite einfach weiter, Kleiner, tu so, als wäre ich gar nicht da, glaub mir, nur das entspannt wirklich.«
Wie Krombach wohnte das Tresenehepaar in einer der winzigen Blockhütten, die den Klausner umgaben. Rick nannte sie Chalets. Es gab dort kein Wasser, keine Toiletten und nur sehr wenig Platz.»Was braucht man denn schon?«, fragte Rick und begann eine seiner Tresenreden. Die Umstände auf der Insel hätten den Menschen gütlicher gestaltet.»Als hätte jemand die Zeit gestreckt, Ed, so gegen unendlich.«
Die Wurzel
Seine Erfahrungen hatten Ed darüber belehrt, dass er aus dem von C. entfachten Verlangen nicht ohne weiteres entlassen werden würde, aber dann war es plötzlich vorbei. Die Schiffbrüchigen flüsterten ihren Namen in die Finsternis, und schon ein paar Sekunden später konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Nicht einmal daran, ob sie überhaupt gesprochen hatten. Oft fiel er einfach in den Schlaf, einer Ohnmacht ähnlich, und musste sich nicht mehr fragen, wie er die Nähe dieses oder jenes Körpers in der Dunkelheit ertragen würde. Das Geheimnis war, einfach zu schlafen.
Aus diesen Tagen des Schlafs tauchte Ed als ein anderer auf. Er vertraute sich Krusos Verteiler nun restlos an, während er seinen Gefährten selbst kaum noch zu Gesicht bekam. Mehr noch: Jener erstmals mit der Schiffbrüchigen namens Grit lose gefasste Gedanke, dass all diese Schwarzschläfer in ihrer Auswahl Abgesandte Krusos waren, Stellvertreter seiner selbst und damit eine Gelegenheit, ihm nah zu sein, verfestigte sich. Er konnte Krusos Gedanken hören, die Melodie seiner Worte sogar. Verkündigungen, die als Schiffbrüchige zu ihm ins Zimmer schlichen, kurz vor Mitternacht, oder zu Schiffbrüchigen gewordene Utopien, phantasierte Ed, man konnte sie riechen, man konnte ihren Stimmen lauschen, man konnte (jetzt, da seine vorlaute Gier endlich schwieg) von ihnen lernen, wenn sie sich ausgestreckt hatten neben ihm oder gleich auf dem Boden oder erst noch lange an der Tür verharrten und kaum erkennbar blieben in der Finsternis — so verschieden sind die Temperamente, dachte Ed. Er kannte das bereits, er wusste Bescheid. Trotzdem erschienen ihm seine Gäste jetzt anders, verändert, vor allem ohne Anzeichen des Scheiterns oder der Lebensmüdigkeit.
Wenn sie verstummten, forderte er sie leise auf, doch noch ein wenig weiterzusprechen, ihm alles zu erzählen, die ganze Geschichte über Krusos große Freiheit. Die meisten begriffen Eds Wunsch. Er glich dem eines Kindes, das sein Märchen (die Geschichte seines Lieblingshelden) vor dem Schlafen noch weiter und weiter hören will. Manche fassten es auch als Prüfung auf, ein letzter Test, eine Art Eintrittspreis für diese Nacht, dieses kostbare Quartier auf der Steilküste, eine letzte Sache vor dem Schlafen, die sie im Grunde kaum noch überraschen konnte nach den Seminaren am Strand, der Suppe, der Waschung und den Stunden in der Schmuckmanufaktur.
Wenn sie zu erzählen begannen, schien ihr Leben (mit seinen Nöten und Konflikten) bereits wie aufgehoben von der, wie viele es sagten, unbeschreiblichen Wirkung der Insel, aufgehoben vom Geräusch des Meeres und seiner großen, endlosen Bewegung, von der Frische des Wassers am Morgen und des Windes, der immer wehte, geradewegs durch die Augen in den Kopf, und das Denken befreite. Immer wieder kehrten die Geschichten zum Ausblick vom Hochland über das Eiland zurück, dem sogenannten Großen Inselblick , der ihnen mit seiner unfassbaren Schönheit die Augen geöffnet und den Anfang einer Erinnerung zurückgerufen hatte ins Bewusstsein, einer Erinnerung an sich selbst. Und tatsächlich war öfter von jenem doch vollkommen kindlich anmutenden Wunsch die Rede, den Umriss der Insel, wie er sich vor ihnen ausstreckte in seiner verletzlichen Gestalt — links und rechts das Meer, dazwischen jener zarte, zerbrechliche Streifen Land — , direkt ans Herz zu pressen …
Kaum ein Schwarzschläfer, der nicht darauf zu sprechen kam, wie er nach langem Schauen hinaus in den Nebel, in dem der letzte, südlichste Zipfel der Insel verschwamm (selten war er wirklich zu sehen, eigentlich nie), erkannt hatte, wie fremd und bedrängt ihm seine Existenz bis zu diesem Tag geworden war, vollkommen umstellt , und wie verlassen, verleugnet, verschämt zwischen den Dingen das eigene Dasein hockte, ähnlich einem melancholischen, trunksüchtigen Hund in seiner Hütte, so flüsterte es einer aus dem Dunkel, wenig treffend vielleicht. Aber Ed wollte hören, alles hören, er spürte die unvergleichliche Wärme des Erzählens in der Finsternis, er spürte, wie die Wärme gemeinsam wurde, während er lauschte, ohne sich zu rühren. Er spürte, wie sie alle zusammengehörten. Wie sie mühelos Vertraute dieses Landes waren, Altvertraute eines Verhängnisses, das schon ewig währte und noch ewig währen würde und doch eine Verheißung bereitzuhalten schien — falls Leidenschaft genug vorhanden war. Tief im Verhängnis steckt die Verheißung, dachte Ed, ein Paradox, wie es ihm nur beim Lesen mancher Gedichte begegnet war, die ihm mehr bedeutet hatten als alles auf der Welt. Er konnte das jetzt denken, die Bestände schwiegen, keine Straßenbahn mehr, kein heftig zu ziehendes Ratschratsch. Stattdessen Anflüge von Scham, Scham und Ekel auf breiter Front. Aber am Ende war er auch dafür zu müde.
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