Einmal erwischte es Rimbaud. Obwohl er es verzweifelt versuchte, gelang es ihm nicht mehr, sich aus seiner Rezitation zu lösen. Sein schiefer Blick und die animalische Verkrampftheit seiner Lippen, ein Ausdruck zum Erbarmen.
«Ruhm, wann kommst du?«
Zu spät der Versuch, den Kopf ihres klügsten Kellners ins kühle Wasser des Besteck-Beckens zu drücken. Heftig und herrisch deklamierend, befreite sich Rimbaud aus Krusos Griff und stürmte hinaus auf die Terrasse, den Arm voller Teller, die er sich im Vorbeiflug auflud, um sie den ahnungslosen und zu Tode erschrockenen Tagestouristen auf die Tische zu werfen. Dabei bleckte er seine breiten weißen Zähne unter dem Schnauzbart, stützte sich auf die Rückenlehne eines der Biergartenstühle, als stünde er vor großem Auditorium, sprach aber nicht zur Menge der wie immer in Unzahl versammelten Urlauber hin, sondern brüllte allein dem Gast, der genau dort, auf jenem Stuhl, Platz genommen hatte, ins Ohr:
«Ich weiß nicht warum …«(Pause, Zähne, zitternder Schnauzbart),
«aber es schien mir immer«(Zähne zur Menge, Zähne zum Hals),
«als wohne er gar nicht mit mir im Gefängnis.«(Biss)
Oder missglückter Biss, denn in diesem Moment hatten ihn Chris und Cavallo gepackt und weggezogen. Mehrmals fuhr sich Rimbaud mit den Zähnen über den Schnauzer, als wolle er ihn herunterreißen.»Dostojewski«, stöhnte Cavallo,»er ist jetzt bei Dostojewski …«
Am Nachmittag hatte Ed seinen Hass auf Schöpfkellen nahezu vergessen. Beim Kaffeegeschirr wurde alles leichter und luftiger, und zu Dienstende trank er Kali mit Cavallo. Die Arbeit war geschafft. Sie hockten auf dem Pausenplatz im Hof, und schweigend teilten sie den Balsam der Zufriedenheit. Irgendwann kam Koch-Mike hinzu und wälzte seinen Walrosskörper auf die Bank. Cavallo schenkte aus, niemand sprach, sie saßen sich auch nicht gegenüber, sondern in einer Reihe, wie unversehens gealterte Schüler in ihrer Schulbank, und starrten auf die Kiefern am Waldrand, die im Licht der frühen Abendsonne zu leuchten begonnen hatten. Es gab nichts Besseres.
Nach einer Weile wurde das Gelb der Kiefern dunkler und sickerte tiefer in die Rinden der Bäume, so lange, bis es in ihnen war und sie endlich aus sich selbst heraus zu leuchten begannen. Cavallo füllte gerade ihre Gläser, als die Frage kam.
Warum ist das Licht der Kiefern so gütig zu unseren Augen?
Die unversehens gealterten Schüler dachten nach auf ihrer Bank. Cavallo gab die Antwort.
Es ist die Seele der Kiefer, die leuchtet.
Sie ist unserer eigenen Seele verwandt, ergänzte Ed, wie man es sehen kann in den Bildern von Bonnard zum Beispiel.
Demnach wäre die Farbe der Seele etwas zwischen Gelb und Braun, dachte Koch-Mike und sagte:»Ich muss noch Kartoffeln aufsetzen für morgen.«
Seufzend erhob sich der Koch. Cavallo klopfte ihm auf die Schulter.
Ohren
29. JULI
Krusos Kriterien? Rimbaud sagt: Alles sei Poesie und darin irre Losch sich nie,»trotz moralisch dunkler Quellen«. Chris behauptet, ich wäre der Einzige, der fast nur Frauen bekommt. Mit Männern ist es anders. Mit Tille war ich sogar noch am Meer, wegen der Wellen, das war traumhaft. Die ganze Müdigkeit wie weggespült. Tille will Fotografie oder Kamera studieren, bekommt aber keinen Studienplatz, keine Chance. Er bringt sich alles selber bei, macht Zeichnungen, liest, er ist voller Energie. Er spart auf einen guten Apparat aus dem Westen. Ich hätte ihm gern noch den Keller gezeigt.
Die Tanne hinter dem Schuppen harkte das 6-Uhr-Morgenlicht zu breiten Streifen. Alles war still. Seit Ed den Ofen übernommen hatte, begann sein Tag auf dem Holzplatz, am Hackstock. Er stapelte sich ein paar Scheite auf den Arm und verschwand damit im Keller. Manchmal sah er den Direktor, wie er von der Steilküste herkam und mit kleinen Schritten auf den Klausner zuging, wie unter Hypnose. Er trug ein weißes, sauber gefaltetes Handtuch über der Schulter.
Im Schwarzen Loch konnte Ed hören, wie Krombach sein Kontor herrichtete, den Stuhl verschob, sein Bett zurechtmachte. Irgendwann das Tackern der Schreibmaschine, das Tippen der Tageskarte. Ragout fin, Soljanka, Hühnerfrikassee, Zigeunersteak, Jägerschnitzel. Ed saß vor dem Ofenloch und starrte ins Feuer. Seine Begierde existierte, aber wie abgelöst, fremd und nur dazu da, ihn verrückt zu machen. Irgendwann brach sie herein, flüsterte etwas wie» Ohren, oh diese Ohren!«, und plötzlich konnte ihn nichts anderes so erregen wie kleine, wohlgeformte Ohren. Es war absurd. Manche Ohren lächelten immerzu, und manche blieben ernst und entschlossen. Der Ausdruck eines Ohrs konnte sich in vollkommenem Gegensatz zum Ausdruck des Gesichts befinden, zum Beispiel zum Ausdruck der Augen. Meist war das Ohr viel ehrlicher, unverstellt. Und in der Regel sahen Ohren unschuldiger aus als Gesichter. C.s Ohr mit dem kleinen Leberfleck oben auf der Muschel hatte in dieser Hinsicht alles übertroffen. Anfangs, als der Anblick noch ungewohnt gewesen war, hatte er manchmal ›ein Krümel‹ gedacht, die Hand schon bereit, ihn unauffällig beiseitezuwischen. Am Ende hatte dieser Krümel alles enthalten, alles ausgedrückt.»Mein liebstes Ohr, mein allerliebstes«, flüsterte seine Begierde und malte ein paar Bilder dazu. Schöne Ohren waren wie Geschlechter, oder mehr: eine immerzu sichtbare Öffnung. Ohren mit verbrecherischem Ausdruck schien es nur selten zu geben auf der Welt.
Tags zuvor, auf dem Rückweg vom Strand, hatte Ed einen Mann mit gewalttätigen Ohren gesehen; er biss einem Kind in den Hals. Erst im nächsten Moment war die ganze Bewegung zu erkennen gewesen: das leichte Hoch und Herunter des Kopfes und die erstaunlich lange Zunge im Kragen. Der Mann leckte den Jungen ab. Dann gab er ihm das Eis zurück, die tropfende Waffel, die er die ganze Zeit über am ausgestreckten Arm ferngehalten hatte. Das Abknien und der Arm hatten plötzlich etwas Ritterliches; das Verbrecherische war verschwunden. Mein Vater hätte mich niemals abgeleckt, dachte Ed. Er beobachtete das Thermometer am Warmwasserkessel. Das bullernde Geräusch des Feuers nach dem Anheizen, wie eine Strömung, die ihn einhüllte, überspülte, besänftigte. Hier war sein Platz, im Keller, am Ofen. Hier konnte er allein sein, leise sein mit den Dingen.
Er ging gern umher und inspizierte die Schränke. Die Asservaten, der Safe, die Zinkwanne des Urklausners mit der Aufschrift» Eremitage auf Tannhausen«. Von oben die ersten Küchengeräusche, Koch-Mike begann seinen Dienst.
Der Übergang zum Getränkekeller endete an einer Stahltür, unverschlossen. Dahinter 6 Grad Celsius und das Brummen des Kühlaggregats. Zu Beginn jeder Saison fuhr ein Lastkraftwagen voller Spirituosen in den Dornbusch; alles, was lagerfähig war, landete im Getränkekeller. Im Boden hinter dem Tresen gab es eine Klappe, eine Art Falltür und eine Treppe, die nach unten zu den Getränken führte. Ein Problem des Tresens war, dass sich in der modrigen Feuchte des Kellers die Etiketten von den Flaschen lösten, sie faulten ab, verschimmelten, wurden braun mit der Zeit. Weil auch die Pappe der Getränkekisten verfaulte, musste jede Flasche einzeln entnommen werden, vorsichtig — das hatte Rick ihm beigebracht. Ed ging dem Tresenmann jetzt oft zur Hand.»Führerbeton, unkaputtbar!«, rief Rick, wenn er die schmierige Betontreppe herunterkam; es war eine seiner Lieblingsgeschichten. Die blaue Treppe, wie er sie nannte (wegen der Härte des Betons), hätte der Klausner den Soldaten der Marine zu verdanken, die zu Kriegsbeginn in der Waldgaststätte stationiert gewesen seien, um die Stellungen der Flak und ihre Bunker im Norden zu errichten, mit ihren unterirdischen Kanälen, die angeblich das ganze Hochland durchzogen.
«Eindeutig derselbe Stoff, guter deutscher Bunkerbeton!«
Seit Monatsanfang verbrauchte der Klausner zehn Fass Bier pro Tag, tausend Liter. Ed wusch die Fässer, die erbärmlich stanken. Rick setzte den Salonstocher an, ein Gerät aus Vorkriegszeiten, mit CO2-Anschluss und Manometer. Wenn er die Stange ins Spundloch hämmerte, musste Ed die Schraube mit der Dichtung andrehen. Ab und zu ging es schief, und sie wateten in Bier oder roter Brause. Rick blieb dabei vollkommen ruhig, er fluchte, aber ganz ruhig. Für Ed war Rick der ausgeglichenste Mensch auf der Insel. Rick sagte, die Insel hätte seine Seele groß gemacht. Das Trinken hielt er für gut. Schließlich sei es nicht der Alkohol der Traurigkeit, den sie hier zapften, sondern der Alkohol der Glückseligkeit.»Die Seele rumort und will noch mehr Glück«, sagte Rick.
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