«Hallo.«
Sehr leise erklärte Grit, sie wolle sich jetzt auf den Boden legen, was Ed nicht erlaubte. Sie war aufgeregt, sie wirkte ängstlich und begann sofort zu sprechen.
«Danke, dass du mich aufgenommen hast, ich meine Kruso, ich meine, Kruso sagt, wir alle hier sind … Schicksalsgefährten, aber ich bin das erste Mal auf der Insel und …«
«Hallo. Mein Name ist Edgar.«
«Ich weiß. Kruso hat mir deinen Namen genannt, und er hat mir alles sehr gut beschrieben, wie ich in den Abwasch finde, welches Becken, welches Zimmer …«
Sie tauschten sich aus.
Ihr Flüstern war wie ein Rascheln aus einer noch unbekannten Ecke seines Zimmers. Auch die Nächte galten als Möglichkeit, sich zu vergewissern , so viel hatte Ed inzwischen begriffen von dem, was die Schiffbrüchigen ihm zu verstehen gaben, säuselnd, leise, oft nur in Halbsätzen und kaum fassbar. Ihre Erlebnisse am Tag, ihre Ausbildung am Strand und die unvergleichliche, einschneidende Wirkung der Insel — genauso, wie Kruso es ihnen vorhergesagt hatte.
Ja, Kruso sei sein Freund.
Ja, ein richtiger, ein enger Freund. Freund und Meister.
Sie lachten ein wenig. So redete Ed das erste Mal. Er konnte seiner Bewunderung Ausdruck verleihen, ungeschmälert, ohne Scham. Er gab seine Verehrung zu. In Grit fand er ein Echo. Oder er war das Echo. Grit nahm ihn viel ernster, als er sich selbst je genommen hatte — als Abwäscher des Klausners. An Grit begriff Ed seine Rolle; er war ein Mitglied der legendären Arche Kruso, die Grit aufgenommen hatte. Für Grit war Ed ein Beweis, ein Exempel, an dem, wer nur wollte, erfahren konnte, wie die Freiheit aussah .
Grit berichtete, was der Meister ihnen erklärt hatte am Strand. Ed war, als hätte er seinen Freund schon lange Zeit nicht mehr gesehen, und als wäre er nun, mit Grit, zurückgekehrt in sein Zimmer, auf seinen angestammten Platz, am Kopfende des Bettes …
«Er sagt, wir, ich meine wir hier«(sie berührte ihn an der Brust und vielleicht auch sich selbst irgendwo),»bilden die kleinste Zelle. Das sei die erste und manchmal auch die einzige Möglichkeit, jedenfalls für den Anfang, die Möglichkeit unmittelbarer Gemeinschaft, die an Stelle der deformierten Verhältnisse tritt. Er sagt, die Freiheit sei eigentlich immer schon da, in uns, wie ein tiefes Erbe. Er sagt, heutzutage sei es besonders schwierig, dieses Erbe anzutreten. Und im Grunde fast zu viel verlangt. Aber hier auf der Insel wäre es möglich, hier am Meer, und wer sich nicht fürchtet, der spürt ihren innersten Herzschlag …«
Sie redete immer weiter.
Er hatte sie darum gebeten.
Niemand, der das Licht einschaltet.
Erleuchtete brauchen kein Licht. Nur Finsterlinge.
Ob sie das Gesagte noch einmal wiederholen könnte? Sie tat es, ohne zu zögern, als wäre das nichts anderes als eine weitere kostbare Gelegenheit, Lehre anzunehmen.
Und plötzlich gehörte alles zusammen. Ed begann Losch zu begreifen. Zuerst die Schultern, dann die Hüften. Er schob sie ein wenig zur Seite, sanft, dann mit Kraft und Bestimmtheit. Sie lag jetzt auf dem Bauch. Er hielt sie an der Taille, wie eine Vase. Er wartete und lauschte. Er schloss die Augen und bedeckte sie mit seinem Körper. Sie redete noch, während er in ihr war. Es war, als spräche er ihr nach, in diesem Ton, mit diesen Worten.
«Bitte noch einmal, noch-ein-mal …«
«Ja«, flüsterte Grit,»ja.«
Als die fremde, auf unbegreifliche Weise vertraute Grit nur noch die tiefen Atemzüge ihres Schlafs von sich gab (die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt), tappte Ed nach unten in den Keller und nahm seinen Platz vor dem Ofen ein. Langsam schraubte er die Ofenklappe auf und betrachtete die Überbleibsel. Schlacke, Erde, Aschekrusten in komplizierten geometrischen Formen. Inmitten ein blaugraues Häufchen voller rostiger, teils handgeschmiedeter Nägel oder Nieten, aus dem Treibholz gebrannt, Reste von Schiffen, die sonst wohin hatten segeln wollen und am Ende vielleicht in einem Krieg oder Sturm gelandet waren … Sein Gesicht wurde warm. Die Augen fielen ihm zu, der offene Ofen wärmte durch bis auf den Grund seiner Augenhöhlen. Für einen glasklaren, niemals wiederkehrenden Moment war ihm so, als kenne er alle Schicksale des Landes. Ihre Anzahl war begrenzt, fünf oder sechs Schicksalstypen, sein eigenes darunter.
Dostojewski
Wenn Ed vom Meer in den Abwasch zurückkam, sangen ihm die Ohren. Es ähnelte einer kleinen Sirene, direkt im Kopf, aber er blieb ruhig und nahm seine Arbeit wieder auf; er machte ein paar Gegengeräusche mit Tellern und Besteck, und nach einer Weile ließ es nach.
Noch mehr als Pfannen hasste Ed die großen Schöpfkellen. Er hätte nicht sagen können, warum, aber inzwischen war es eine ausgewachsene Feindschaft. Verächtlich schleuderte er sie ins Becken und stieß mit der Faust in ihren öden Löffel, hektisch, viel zu ungestüm und ohne genauer hinzusehen. In der Regel war es nur eine Frage der Zeit, bis es der Kelle unter Ausnutzung ihrer ganzen Heimtücke (und des Hebelgesetzes) gelang, Ed den meterlangen Aluminiumstiel mit dem kleinen hässlichen Haken ins Gesicht zu schlagen. Wie ein prähistorisches, schon vor Jahrhunderten für ausgestorben erklärtes Reptil schoss die Kelle aus dem dünn mit fettiger Schaumhaut bedeckten Waschwasser hervor und spritzte ihm ätzende Brühe in die Augen. Blind fluchend, fuchtelte Ed mit den Händen durch die Luft — gleichzeitig traf ihn der Schlag.
«Das dumme Schwein!«, brüllte Ed. Es war eine Kränkung ohnegleichen.
Oft waren die Außenseiten der Schöpflöffel geschwärzt, als hätte man sie direkt ins Feuer gehalten, um irgendeinen Sud zu brauen, eines von Krusos magischen Giften vielleicht für die heilige Suppe — »verdammter Schamane«, brabbelte Ed und schrubbte auf dem Aluminium herum.
Inzwischen war es wieder wärmer und die Luft im Abwasch schwerer und stickiger geworden. Ein scharfer Dunst stieg auf aus dem Becken, in dem seine Hände wühlten, das Spülmittel brachte seine Schleimhäute zum Glühen.»Verdammter Schamane, verdammte Nachtgestalten hier …«Ed hatte Angst, im Nebel der Ausdünstungen das Bewusstsein zu verlieren. Seit sein Zimmer zu Krusos Verteiler gehörte, war er wie betäubt von Müdigkeit.»Schöpfung, Schöpflöffel, Erschöpfung«, summte es in seinem Schädel, halblaut fluchte Ed vor sich hin, es gärte und ätzte in ihm, er wurde fordernd und böse, eine Auseinandersetzung, die längst fällig war:»Was für verdammte Kräuter, Losch, und überhaupt, wozu diese stinkende Suppe, wozu diese römischen Gespenster im Abwasch …«Unter den Eingebungen des Spülmittels und gezeichnet vom Abdruck des kleinen hässlichen Hakens an seiner Schläfe (die Kelle, das Schwein, hatte Ed ihren Stempel aufgedrückt), verkündete er Kruso, dass er am Ende sei, und zwar absolut . Bewusstlos starrte Ed in sein Becken. Ein Teller trudelte zu Boden, und für einen Moment sah er C. als eine Art Geschirr — rund, glänzend, er sah ihre Stirn und seinen Schaum darauf, ein helles feuchtes Etwas, das ihr ins Haar und in die Augen lief und abgewischt werden musste.
Nach Dienstschluss konnte es Stunden dauern, bis sich der Schwindel legte.
Ed fragte sich, wie es die anderen machten, Chris oder Cavallo, wie sie es schafften, ungerührt am Frühstückstisch zu sitzen, während er dumpf und hohläugig auf sein Marmeladenbrötchen starrte oder versuchte, einen Blick von Kruso zu erhaschen; nur mit Mühe widerstand Ed der Verlockung, seinen Kopf auf den Personaltisch zu legen. Im Grunde konnte es nur eine Erklärung geben: Sie schliefen. Sie waren das alles längst gewöhnt, Krusos System . Abgesehen von Rolf war Ed der Jüngste im Klausner, kein Grünschnabel mehr, aber ein Anfänger, und zwar in jeder Hinsicht. Seine sexuellen Erfahrungen waren beschränkt, und ja, eher oberflächlich, wie er zugeben musste. C. war die Ausnahme gewesen, ein Anfang, ein Absturz.
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