In der Senke blitzte der Kegel einer winzigen Lampe auf und erlosch. Ed stöhnte leise, und Kruso gab seinen Mund frei.
«Wo ist C.?«
«Dachtest du, sie kann ewig bleiben?«
«Ich will nur wissen, wo sie ist.«
«Sei nicht kindisch, Ed.«
«Und der Kobold soll verschwinden aus meinem Zimmer.«
«Dein Zimmer? Wofür hältst du dich? Das ist ein Zimmer des Klausners, eine seiner kostbarsten Kajüten, vergiss das nie. C. hatte fünf Tage, mehr als jeder hier, das scheint dir entgangen zu sein. Was glaubst du, wer sich dafür eingesetzt hat?«
«Ich will …«
«Ja, Ed, du willst. Und ja, ich muss sagen, wir waren überrascht, nach allem, was wir verstanden hatten von dir. Keine Vergaben an Edgar, so lautete die Weisung.«
«Man wählt seinen Schiffbrüchigen selbst, hast du gesagt.«
«Sicher, Ed. Beim ersten Mal .«
Kruso deutete auf das Grab der Schläfer.»Die Vergabe braucht Kriterien, sie braucht Gerechtigkeit und Disziplin, sonst macht es keinen Sinn, verstehst du? Freiheit und Ordnung schlagen immer wieder ineinander über auf unserem Weg. Vergiss nie, wie du selbst aufgenommen wurdest. Du hast hier deine Höhle gefunden. Du hast lange genug nur an dich gedacht.«
Ed schnürte es die Kehle zu. Er wollte sich auf Kruso stürzen und schämte sich sogleich dafür. Er konnte kaum atmen. Kein bester Freund mehr — von einer Sekunde auf die andere. Nur ein Geduldeter. Weniger als das.
«Natürlich steht es dir frei, zu gehen, jederzeit. Ich kann dich nicht hindern.«
In den Augen seines Freundes hatte Ed versagt; dabei hatte er immer alles getan, er war ein guter Gefährte gewesen, der beste. Es war, als hätte ihm Kruso das alles entrissen, mit einem einzigen Satz.
«Du hast mich geträumt.«
«Und jetzt bist du ein Teil des Klausners, ist das etwa kein Traum?«
Im Hof war es still. Kein Licht mehr im Abwasch, nur die kleine lila Neonröhre im Tresenregal. Sie saßen am Kellnertisch unter dem Fenster. Kruso kippte Kirsch-Whisky in eine Kaffeetasse. Er hatte einen Arm um Eds Schultern gelegt und ihn langsam, wie einen Verletzten, in den Klausner zurückgeführt. Ed zitterte und schlug mit den Zähnen ans Porzellan. Als reagiere sein Körper in diesem Moment auf den Entzug. Der Irrsinn flackerte noch in seinen Augen, aber sein Zorn war verraucht. Er atmete in kleinen Stößen in seine Tasse hinein. Als wäre es nur darum gegangen, Losch zu finden. Immer nur darum. Nicht C. Und auch nicht G.
«Du hättest in deinem Zimmer bleiben sollen.«
Loschs Stimme klang besorgt.
«Du bist gern dort, du bist derjenige von uns, der die meiste Zeit auf seinem Zimmer verbringt, und das kann so bleiben.«
Innerhalb des Kirsch-Whiskys war es warm und gut. Als hätte der Kirsch-Whisky ihn getrunken. Als er den Kopf hob, entdeckte er ein paar nackte, schmale Füße unter dem Nachbartisch. Jemand liegt dort und schläft, dachte Ed. Jeder braucht bloß einen Platz zum Schlafen, eine Unterbringung, ein Ouartier, wo …
«Ist C. in Sicherheit?«
«Es geht ihr gut, Ed. Sie hatte ihre Zeit.«
«Kommt sie wieder?«Mit einem Ruck sprang das Kühlaggregat an und brachte die Gläser im Tresen zum Klirren. Die Stahlkännchen glänzten im Halblicht, wie frisch poliert. Ed wusste, dass sie innen braun und verkrustet waren, manche fast schwarz.
«Sie ist nicht wirklich fort. Sie ist jetzt eine von uns. Die Erleuchteten stehen alle miteinander in Verbindung, jede Frau, jeder Mann.«
Ed atmete aus und schob seine Tasse in die Mitte des Tisches. Er hatte nicht genau verstanden. Er war dabei zu vergessen, was Sätze bedeuten. Er wohnte jetzt in einer Höhle, tief im Geräusch. Dort sprach man einfach leise vor sich hin, mit seiner Stimme. Dort tat es wundersam wohl, den Klang dieser Worte zu hören, Krusos Kraft und Energie zu spüren.
«Sie üben die Freiheit, Ed. Es gibt nichts, was irgendjemand tun muss, nichts, was du tun musst.«
«Denken sie nicht, ich meine …«
«Sie lernen, Ed. Für manche ist es nicht leicht. Manche sind verwirrt und überrascht. Das ist normal. Mit der Freiheit entdecken sie plötzlich so vieles, all ihre verschütteten Bedürfnisse, oft mit einem Schlag.«
Noch immer ging das Rauschen durch die Nacht. Ed war darin eingeschlossen. Das Rauschen verkleinerte ihn auf die Größe eines Eis, während das Draußen unablässig wuchs. Am Boden eines der Stahlkännchen hatte Ed eines Tages ein Zeichen entdeckt, das dort eingeritzt war. Es handelte sich um das verbotenste Zeichen der Welt. Im Eifer und gedankenlos hatte er seine Bürste mehrmals in den Stahlkolben gestoßen, und irgendwann war die Überlieferung schimmernd hervorgetreten unter der Kruste. Augenblicklich verstand Ed, welche Verantwortung auf ihnen, den Abwäschern, lastete. Es war kaum zu ertragen.
Das neue Mädchen bewegte ihren Arm, und Ed erwachte.»Zwei Uhr und vier Minuten. Meldungen zur Verkehrslage liegen nicht vor. «Noch immer ging das Rauschen durch die Nacht. Ed war darin eingeschlossen. Das Rauschen verkleinerte ihn auf die Größe eines Eis, während das Draußen …
Die Schiffbrüchigen II
Es gab kein Zeichen, kein Kennwort. Kurz vor Mitternacht betraten sie einfach sein Zimmer. Sie standen im Dunkeln, niemand machte Licht, Viola spielte die Nationalhymne.
Niemand, der das Licht einschaltete, als sei dies die Bedingung. Ein gewisser Schutz vielleicht, eine Regel Krusos. Ihre Konturen verschwammen und verwuchsen mit den Dingen, und so waren sie auch am Tag noch da, am Tisch, auf dem Bett, auf dem Boden; langsam nahm sein Zimmer die Gestalt des Schiffbruchs an. Fremder und vertrauter Schiffbruch, Schiffbruch eines ganzen Landes.
Niemand, der lange zum Lichtschalter tasten, niemand, der sich erniedrigen musste. Viele wollten etwas zurückgeben, hatte Kruso gesagt, aber es gäbe nichts, was irgendjemand tun müsse, und er müsse gar nichts tun.
Und so war es.
Alles geschah wie von selbst, ohne Gesicht.
Monika, die kleine Unsichtbare, hatte ihm bald eine zweite Decke ins Zimmer gelegt, in die Ed sich einrollte, wenn er beizeiten auf den Fußboden wechselte in dem Versuch, Abstand zu gewinnen.
Aber auch unter den Schwarzschläfern gab es solche, die ihm keinesfalls zu nah kommen wollten und es also nicht wagten, das leere Bett zu besetzen. Stumm und ohne einen einzigen Laut, also Geistern ähnlich, schlossen sie die Tür und streckten sich auf den Dielen aus.
So geschah es, dass manche Nächte niemand im Bett lag und es stattdessen eng wurde auf dem verschmutzten Boden, auf dem noch immer kleine vertrocknete Häufchen toter Kakerlaken lagen, so sauber und nahezu planmäßig angeordnet, als hätte sie ein Totengräber mühevoll zusammengetragen. Mit halbem Bewusstsein dachte Ed darüber nach, welche Tiere wohl Kakerlaken fraßen. Wahrscheinlich enthielten ihre knisternden Körper alle nur denkbaren Vitamine, Spurenelemente, kostbare Inhaltsstoffe, die in der richtigen Dosierung nahezu unsterblich machten oder jedenfalls auf eine Weise empfindlich, dass es mit ihrer Hilfe möglich wäre, nicht mehr nur mit den Augen zu lesen, sondern auch mit der Haut, zum Beispiel bei vollkommener Finsternis.
Wenn Edgar erwachte (meist war es ein Aufschrecken, schweißüberströmt, begleitet von einer Erektion, so hart, dass sie schmerzte; manchmal versuchte er sich zu streicheln, wie man ein Kind beruhigt durch Berührung, aber er traf nur auf einen verständnislosen Ast, der fremd in die Gegend ragte und ein Eigenleben zu führen begonnen hatte, ohne Ed und weit jenseits seiner Bemühung um — wie sollte man es nennen — Würde), hörte er das Atmen, fremdes und eigenes Atmen, in lauernder Umkreisung, ein Gespräch aus Luft, so lange, bis er den Rhythmus erkannt und sich darin eingepasst hatte und zurücksinken konnte in den Schlaf, wegsackte in irrsinnige Träume.
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