Als die Band verstummt und die Punks und Blueser unter den Esskaas ihren müden Beifall zu Ende gegrölt hatten, trat scheu ein Mann mit asiatischem Aussehen in ihre Mitte. Umständlich platzierte er eine Kassette in Koch-Mikes Recorder und begann zu tanzen.»Tänze der Khmer«, flüsterte ihm Cavallo ins Ohr, der an seine Seite zurückgekehrt war.»Szenen des Apsara-Tanzes«, ergänzte ein Esskaa, der hinter Ed stand und ihm seinen Atem ins Genick blies,»aus Kamm-bood-scha, capito?«
Wie alle war der Kambodschaner barfuß, und ähnlich wie die Blueser es taten, schwenkte er sein langes schwarzlockiges Haar, nur wirkte er dabei weniger verzweifelt. Sein Tanz war ein Tanz des Stolzes und der Sinnlichkeit. Noch mitten im Lied trat Kruso vor und wollte den Tänzer umarmen, der daraufhin für einen Moment das Gleichgewicht verlor und stolperte, direkt in die dampfende Schar der Esskaas, die seinen kleinen schmalen Körper auffingen und augenblicklich in die Luft stemmten, wie einen Sieger. Begeisterter Beifall, auch von Ed. Die großen weißen Zähne des kleinen Kambodschaners blitzten über ihren Köpfen. Bis Kruso ein Zeichen gab und seine Lesung begann, in schleppenden Rhythmen und mit der ganzen unfassbaren Spannung, die seinem kräftigen, breitschultrigen Körper innewohnte. Das Buch trug den Titel Die Nacht aus Blei ; es war dieselbe bleierne Dunkelheit, die sich in diesen Minuten über den Versammlungsplatz senkte.
Krusos Stimme, Krusos Ton.
Die Hypnose dauerte noch an, als er das Buch längst wieder geschlossen hatte. Vorsichtig und leise rauschte das Meer:»Du kannst meinen Ton übernehmen. «Eine Zeile wie aus dem Jenseits. Dem Rauschen wuchs ein Kern, und augenblicklich entstanden Ordnung und Disziplin. Eds Herz pumpte Blut, seine Augen glänzten, er trat ein ins Stadium der Verheißung.
Kruso zog ein kleines Bündel Zettel aus der Tasche, dass er Ed in die Hand gab.»Das Programm zum Tag der Insel. «Er brauchte kaum die Stimme zu heben, so still war es geworden. Und als wäre das schon immer seine Aufgabe gewesen, verteilte Ed die handgeschriebenen Blättchen unter den Esskaas.
«Was solln schon sein, wer iss uns prophezeit?«, krächzte der Sänger, und erneut setzte die Band ein. Das Lied schien bekannt.»Die Tau-fe, die Tau-fe, die Tau-oau-oau-fe!«, wurde gerufen, erst vereinzelt, dann im Chor, woraufhin der Sänger den Blechkarren (die Maschine) in die Mitte des Platzes schob:
«Ju-gend voran, Ju-gend pack an,
brich dir sel-ber die Baa-haahan,
kein Zwang und kein Drill, der eigene Will,
bestimme dein Leben fortaa-haahan …«
Ed erschauerte. Eine Weile dauerte es, bis sich jemand bereitfand. Ed sah, wie ein Mädchen ihn zurückzuhalten versuchte, aber der Lederhosen-Krächzer legte dem Opfer (Ed dachte Opfer) augenblicklich seine Hand auf die Schulter, und damit war es besiegelt.
«Ju-gend voran, Ju-gend voran,
blicke frei in das Licht,
das dir niemals gebricht …«
Die Band begann einen furios hämmernden Rhythmus zu spielen. Bereitwillig ließ sich das Opfer, das nicht mehr als eine Badehose trug, von Helfern auf die Maschine binden, die Arme nach hinten gebogen. Die Beine wurden über Kreuz mit einem Gürtel an die Deichsel geschnallt. Abschließend schob ihm jener Esskaa, der die ganze Zeit als eine Art Assistent bereitstand und nur mit einem Schurz bekleidet war (wie ein Azteke oder Arbeiter der Antike hatte er das Tuch fest zwischen die Beine geschlungen, das Geschlecht wie nach oben gezogen und zu einem unförmigen Etwas gepresst), einen Schlauch in den Mund, an dessen Ende ein kleiner roter Blechtrichter glänzte. Langsam ging er damit im Kreis umher.
«Milde Spende, milde Spende«, murmelte er, worauf die Umstehenden die Hälse ihrer Flaschen neigten; er selbst gab jeweils einen Schluck Sekt hinzu.»Langsam, langsam, ihr Freunde«, mahnte der Schurzträger, nach jeder Spende reckte er den Trichter zu einer Art Siegeszeichen in die Luft.
Währenddessen wurde die Karre mit dem Mann von vier anderen Esskaas angehoben und fallengelassen, in einem schnellen, wie abgemessenen Rhythmus. Trotz des sandigen Untergrunds sprang das Gefährt mit seinen großen Rädern und den dünnen Fahrradreifen nach jedem Aufprall hoch in die Luft. Die Freundin des Opfers wimmerte und kicherte abwechselnd, sie schien betrunken zu sein. Ed hatte den Mann inzwischen erkannt, er war Abwäscher im Norderende, jener Esskaa, der ihm an seinem allerersten Tag auf der Insel das Wort Crusoe wie einen Kassiber hinterhergeflüstert hatte.
Lange blieb die Maschine nicht in Betrieb. Mit großer Prozession wurde der Abwäscher hinunter ans Ufer gekarrt. Ed spürte, wie sich sein Magen zusammenschnürte.
So weit, wie es die Zeremonie offensichtlich gebot, schob man den Wagen ins Meer — Gejohle, Schaumkronen, der Körper des Abwäschers war bereits nass und schimmerte dunkel, als das Gefährt auf einen Stein stieß und kippte.
Mit jeder neuen Welle geriet jetzt der Kopf des Mannes unter Wasser; die Esskaas, die an der Deichsel gewesen waren, konnten sich kaum noch halten vor Lachen. Der Abwäscher schien ebenfalls zu lachen, lauthals, oder er brüllte um Hilfe, im Rauschen der Brandung war das nicht zu unterscheiden. In seinem Übermut begann der Schurzträger, den restlichen Sekt in die Gischt zu kippen,»Jugend voran, Jugend voraa-haaahn …«
Mit zwei, drei Sprüngen, jedenfalls schneller als Ed oder irgendwer begreifen konnte, was geschah, hatte Kruso den Strand überquert. Mit der flachen Hand schlug er dem Schurzträger so kräftig ins Gesicht, dass dieser sofort hinschlug und dumm liegen blieb. Dann packte er die Karre, aber ihr Gestell war schon eingesunken in den Sand. Ein paar der Esskaas, die gerade noch gelacht hatten, sprangen ihm bei; sie griffen in die seitlich herunterhängenden Fesseln und Riemen.»Nie-mand, nie-mand …«, brüllte Kruso und gab damit den Rhythmus vor.
«So hast du es dir sicher nicht vorgestellt, dein Leben auf der Insel?«
«Vieles hat sich verändert«, entgegnete Ed.
Wahrscheinlich hatte Kruso ihn bereits am Schritt erkannt. Oder er war einfach sicher, dass es Ed sein musste, der ihm nacheilte. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander. Sein mutiger Freund wirkte vollkommen ruhig. Er hatte das Buch in der Hand, und Ed fragte sich, wo es die ganze Zeit gewesen sein konnte.
Ein salziger Sprühnebel flog ihnen ins Gesicht; auf den Steinen am Ufer glänzte das Mondlicht. Ein paar Sätze kreisten in Eds Kopf, plötzlich hatte er ein gutes Gefühl . Aber noch ehe er über C. (und vielleicht sogar G.) sprechen konnte, begann Kruso mit seiner Erklärung.
«Sie nennen es das Slamern. Wenn die Maschine auf den Boden knallt, explodiert das Gemisch — Schnaps und Sekt, geht direkt in den Schädel, ist wie ein Schuss in eine andere Welt. Man braucht nicht besonders viel Alkohol dazu, die Wirkung liegt in der Physik, nicht in der Chemie, verstehst du, Ed?«
«Ich war noch nie gut in Physik«, erwiderte Ed, beschämt von der Innigkeit seines Wunsches, mit Kruso zu reden.
«Früher nannten sie es den Gottesdienst. Sie machen es einmal in der Woche. Irgendwie endet die Sache immer im Wasser. Es geht ihnen ums Meer, das sie verehren, anbeten und so weiter. Primitiv, aber verständlich. Ihrem alten Sänger ging es beim Slamern noch um Schaltvorgänge, Schaltkreise im Kopf, bewusstseinserweiternde Gehirnprogrammierung und solche Dinge, aber er ist ausgereist, letztes Jahr. Seitdem ist die Sache heruntergekommen. Sogar der buddhistische Baum …«
«Der buddhistische Baum?«
«Ja. Ein Baum mit hundert Armen, Ästen genau genommen. Ein unvergleichlicher, großartiger Baum. Manche sagen auch Traumzauberbaum. Er steht am Capriweg, unmittelbar an der Küste. Sie benutzen ihn für ihr Aufnahmeritual. Dann sitzen sie dort oben — sie trinken und warten, wer zuerst herunterfällt. Fast jeder wird aufgefangen, nichts passiert. Es heißt, der Baum bringt jedem Glück, der es nötig hat. Aber ich möchte dir wirklich abraten, Ed. Du brauchst das nicht, sie kennen dich inzwischen, und sie akzeptieren dich.«
Читать дальше