«Jetzt weichst du aus.«
«Bei Schluckauf hält man die Luft an, hebt den Arm und so weiter. Aber C. zuckte ja nur noch und brachte keinen einzigen Ton mehr heraus. Deshalb war es ein Notfall, würde ich sagen.«
«Ein Notfall?«
«Ja, als griffe sie nach dem nächstbesten Rettungsanker.«
Sein Fuchs stöhnte leise.
«Ich sagte, jemand denkt wohl sehr an dich. Ich meine, ich war vollkommen hilflos.
›Ja-hck‹, sagte sie und zog mich vors Bett. Um meine Füße ein Geräusch wie von tausend fressenden Raupen, aber langsam versickerte die Flut, und nach und nach wurde es still, und irgendwann war da nur noch C., ihr leises Schmatzen, wirklich leise, nur das, sonst nichts. Alles war sanft um mich her, weich wie Samt, und plötzlich, keine Ahnung — plötzlich konnte ich es. Plötzlich konnte ich ihr in die Augen sehen dabei.«
Ed schwieg.
Das Meer hatte wieder begonnen zu atmen, mit seinem dunklen Grund und den leisen Obertönen. Es war jetzt fast kühl. Ed sah C. Seine Hand auf ihrem Kopf. Ihre Augen, ihre hohe, verschwitzte, irgendwie eiförmige Stirn und ihre Haare, mit denen sie nichts machte, nichts anderes als seine Schenkel zu streicheln, nichts anderes als ihn anzuschließen an ihren Stromkreis. Ein paar Haarspitzen blieben haften an seinem Schwanz und übernahmen die Versorgung. Ein feiner Schwindel, als hätte sie ihn angehoben, ganz leicht, über die Grenze.
«Diese Käfer, Ed …«
«Ich glaube, es war der einzige Weg, ich meine, in diesem Moment …«
«… haben dich verwandelt, oder?«
Die Kruso-Energie
In ihrer von Gedichten gestifteten Vertrautheit hatten Kruso und Ed zueinander gefunden, und Tag für Tag festigte sich ihre Gemeinschaft. Kruso beteiligte sich jetzt an der Feierabendreinigung des Abwaschs, und öfter übernahm er es sogar selbst, die Tonne mit den Speiseabfällen nach draußen zu rollen, all jene Handgriffe, die Ed als Dienstjüngstem des Klausners auf selbstverständliche Weise zugefallen waren. Spritzte Kruso den Abwasch aus, sprang Ed wie ein Derwisch hin und her, den stumpfen Schrubber in den Fäusten. Auf eine Weise, wie es nur Ed gelingen konnte, blieb er dem in Schwüngen über die Fliesen fegenden Wasserstrahl auf den Fersen — es war eine Art Tanz, ein Vorspiel für den Abend. Am Ende wischte Ed mit dem Lappen den Boden trocken; Losch rollte den Schlauch ein. Einer plötzlichen Eingebung folgend, setzte er einen Fuß auf Eds Kopf, aber ganz ohne Schwere. Ed griff nach dem Fuß und gab ihm Gewicht.
Im Ganzen war es mehr als Vertrautheit und mehr als Vertrauen. Im Grunde war es eine gemeinsame Fremdheit, die ihre Freundschaft begründete. Dass es beiden unmöglich war, über das zu sprechen, was ihnen am schwersten auf der Seele lag, schien sie enger aneinanderzubinden als jedes Geständnis. Es gab die Worte eben nicht, und Verstehen bedeutete, sich nicht zu täuschen darüber. Ohnehin wäre nichts wiedergutzumachen. Woraus ihr Unglück bestand (und was ihr Handeln bestimmte), war besser aufgehoben in einem Gedicht. Sie hatten sich Trakls Sonja vorgetragen, und Losch hatte ihm das Foto geschenkt, das schöne Lächeln in der abgewetzten Hülle, in dem Ed auch G. erkannte. Über Gebühr oft hatte er das Bild zur Hand genommen und sich berührt dabei. Wenn er seinen Blick in den Augen des Mädchens versenkte, wuchsen seine und Krusos Geschichte aufeinander zu.»Dass du nicht vollkommen allein bist auf der Welt«, flüsterte Ed und küsste die fahle Hülle des Fotos. Sogleich schämte er sich und spürte, wie ihn die Gefühle verließen. Er konnte G. nicht allzu sehr geliebt haben, wenn er sich schon jetzt nicht genauer erinnerte an ihr Gesicht. Dafür war es möglich geworden, wieder an sie zu denken, ohne Straßenbahn. Er sah, wie sie in ihrem Sessel saß. Sie redete mit ihm. Ihr Mund bewegte sich, aber er konnte sie nicht hören. Sie war ernst, und was sie ihm mitteilen wollte, schien wichtig zu sein. Mitten im Satz und ohne ihn aus den Augen zu lassen, griff sie nach hinten und rieb mit der Hand an einem Blatt ihrer Zitronenpelargonie. Das Zimmer füllte sich mit Zitronengeruch, und Eds Herz begann sich zu verkrampfen. Er stand im kühlen Abgrund eines Brunnens, umgeben von Wänden aus toten Beständen, riesige, dicht beschriebene Grabsteine, die seinen Schmerz verzehrt und verwandelt hatten: in Distanz.
Durch das verschmierte Fenster sah Ed, wie Kruso die Futtertonne noch einmal inspizierte und dabei ab und zu auch mit der Hand hineinfuhr. Obwohl (oder weil) er kaum noch zum Schlafen kam, seitdem C. bei ihm Quartier genommen hatte, und obwohl (oder weil) ihm in diesem Moment Tränen in den Augen standen und Trauer einkehren durfte, fühlte er sich wie geborgen im Abwasch. Er betrachtete, was von den Waschungen am Beckenrand zurückgeblieben war. Ein paar Zopfgummis, ein Kiefernnadelbad, die Verpackung eines Palasthotel-Seifenstückchens. Die Waschlappen auf der Leine zwischen den Topfregalen waren noch feucht; nur mit Mühe widerstand Ed der Versuchung, sein Gesicht in einen der Lappen zu pressen.
Wenn Ed vom Duschen heraufkam, lag einer der alten Klausner-Kopfbögen auf seinem Bett. Nach und nach hatte er jene Texte kennengelernt, die Kruso, wie er es gern wiederholte, endlich einmal zusammenstellen wollte zu einem Band.»Es gibt nichts Schöneres, als einen Band zusammenzustellen!«Anfangs hatte Ed das Gedicht zuverlässig am Fußende vorgefunden, später auf seinem Kissen, genau in der Mulde, die sein schlafender Kopf dort hinterließ — an Stelle meines Kopfes, dachte Ed.
Schon beim Duschen konnte er es sehen: das vergilbte Papier, die nach links oder rechts verrutschten Zeilen und die Schrift mit den blutigen Mützen. Er sah, wie Kruso sein Zimmer betrat. Es war eine Art Ehrenbezeigung, die Ed sich vorstellte; als ob sein Freund sich verneigte beim Ablegen des Gedichts — so weit konnte er sich gehenlassen, während ihm das Wasser über die Ohren rauschte und sein Körper sich vorbehaltlos dem Glück überließ, dort zu sein, wo er war.
Møn war zu sehen. Ed probierte Speiches Brille, die noch immer auf dem Waschbecken lag; er hätte nicht begründen können, warum. Er spülte die Gläser und rieb sie am Handtuch sauber. Das erste Mal erkannte er den feinen weißen Brandungsstrich vor dem Kreidekliff. Und den Wald an der Küste, ein dunkler Streifen, fünfzig Kilometer entfernt.
«Ah, Speiche«, rief Kruso. Plötzlich stand er im Zimmer. Er hatte seinen Weißwein dabei. Er bot Ed davon an, trank selbst einen Schluck und zog die Wangen nach innen — sein Augenlid hing fest, auf halber Höhe. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als sei er schon müde, aber es war nur der Anfang seiner Rede.
«Du arbeitest im Abwasch. Du sprichst alles hundert Mal ins Becken, so lange, bis es stimmt. Eigentlich möchtest du ganz versinken dabei, abtauchen, aber inzwischen genügt dir das kleine Kreisen deiner Hände im Wasser. Dazu das Gedämpfte, kaum hörbar, die Unterwassergeräusche. Die nach links und rechts schwenkende Schwebe, wenn ein Teller zu Boden trudelt, versenkt wird wie ein Schiff. Davon die Stellung deiner Zeilen. Oder der dumpfe Klang, wenn etwas rasch zu Grunde geht, stapelweise. Du kannst das alles retten, reinigen, bergen, trocknen — jedes Geräusch ist eine Höhle, ist eine Sprache, Ed. Du verstehst das, denn du wohnst im Geräusch. Und nur von dort her fragst du, das heißt: Du musst alles hundert Mal sprechen, ins eigene Ohr. Du kannst vergessen, was die Worte bedeuten. Nennen wir es: das semiotische Dreieck zerschlagen. Anfangs ist es kaum zu ertragen; das Klirren der Gläser, der Tassen, das Scheppern der Teller, das Rasseln des Bestecks, dann die unausstehliche Hitze, die Schwüle, der Dreck, das Fett, der Schwindel und die Übelkeit … Ein einziger Verlust, so kommt es dir vor. Aber nichts ist wirklich verloren und niemand, Ed, niemand . Du sprichst einfach weiter leise vor dich hin, mit deiner Stimme, bei den Worten selber klopfst du an, mit deiner Stimme. Hunderte Male, ins eigene Ohr. Und irgendwann kannst du es hören …«
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