«Und spürst du sie, die Freiheit?«
In den folgenden Tagen weitete Kruso den Bereich seines Anvertrauens aus. Standen sie allein im Abwasch, kam es vor, dass sein Murmeln anschwoll, woraufhin Ed vorsichtiger wurde in seinen Bewegungen, um weniger Geräusche zu machen, was beinah unmöglich war in ihrem Chaos. Krusos tiefe, monotone Stimme schien ganz bei den Worten zu bleiben, es war, als spräche er nur für sich und vor sich hin, ins Becken, in die fettige Brühe, und nicht eigentlich zu Ed. Die Teller, die Bürste, die Töpfe, der Römer, die ganze Umgebung veränderte sich — der Abwasch wurde Ausdruck , Ausdruck von etwas anderem, das sorgsam behandelt werden musste. Lange war Ed unsicher, ob Kruso überhaupt irgendeine Reaktion von ihm erwartete, ob es überhaupt ankam auf seine Anwesenheit oder vielleicht das Geschirr im Becken oder das Waschwasser wichtiger waren.
Eine Antwort erhielt Ed nur indirekt. Dass Kruso seine Gedichte vor ihm in den Abwasch sprach, verstand die Besatzung des Klausners als Zeichen. Edgar, le nouveau plongeur (Rimbaud), war endgültig aufgenommen. Rimbaud bezog Ed jetzt sofort als Zuhörer ein, wenn er mit neuen Büchern und Ideen in den Abwasch stürmte. Oft begann er mit einem möglichst simplen, eingängigen Zitat, dass er als» Weisheit des Tages «auf die Schiefertafel mit den aktuellen Speisen geschrieben hatte. Immer wieder gab es Gäste, vor allem Tagestouristen, die in ihrer kopflosen Hektik oder in völliger Verkennung die Weisheit bestellten.»Bitte zweimal Panta Rhei«, oder» Wir hätten gern Gott ist tot …«Noch ehe sich aufklären ließ, dass diese Bestellung nur das Ergebnis eines — wahrscheinlich urlaubsbedingten — Kurzschlusses gewesen sein konnte, für den man sich lachend entschuldigen wollte (obwohl die Verwandtschaft zu einem Gericht, das zu Hause in Sachsen» Tote Oma «hieß, nicht von der Hand zu weisen war), wurde Rimbaud herbeigerufen, der mit ganzem Ernst und jedenfalls ohne jede Herablassung zu einer kleinen Rede über» Panta Rhei «oder» Gott ist tot «anhob, sich nebenher dafür entschuldigte, dass» Panta Rhei «oder» Gott ist tot «noch nicht als Speisen im Angebot seien, nein, noch nicht, später vielleicht, ja, im Kommunismus, sicher, nur Utopien würden, wie man wisse, selten Wirklichkeit — so beschloss Rimbaud seinen kleinen Exkurs und empfahl Kohlrouladen.
Nicht selten schwenkte er beim Reden einen Kassenbon über den Scheiteln der verblüfften Gäste, als enthielte dieser seine wichtigsten Notizen, aber er schaute nie auf den Zettel, er dirigierte damit nur Satzbogen für Satzbogen in die Luft über den Tischen, und wahrscheinlicher war, dass er zum Sprechen lediglich etwas Papier zwischen den Fingerspitzen brauchte, eine alte Gewohnheit aus seiner Zeit als Universitätsdozent für Philosophie in Leipzig an der Pleiße.
«Ruhm, wann kommst du?«
Ohne wirklich auf Antwort zu warten, spießte Rimbaud den Bon auf den Nagel neben der Kasse und blies es noch einmal leise unter seinem Schnauzbart hervor, aber nicht mehr als Frage, mehr als kleine Melodie:
«Ruhm, wann kommst du, kommst du, kommst du …«
Seit dem letzten Besuch des Buchdealers in der Bienenhütte, legte er ihnen Bücher des Autors Antonin Artaud ins Nest,»Liebling dieser Saison«, raunte Kruso in den Dampf des frischen, fast kochenden Wassers, das mit breitem Strahl ins Becken strömte. Die Bücher trugen Titel wie Schluß mit dem Gottesgericht oder Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft . Ed musste zugeben, dass ihn Rimbauds Lesungen Artauds ratlos machten, und er begriff, wie wenig er doch eigentlich wusste von den Dingen der Poesie, trotz seiner Bestände.»Da, wo es nach Scheiße riecht, / riecht es nach Leben. «Das leuchtete eigentlich ein. Nur hatte Ed es bis dahin nicht für denkbar gehalten, dass etwas wie» Streben nach Fäkalität «möglich war — als Gedicht.»Es gibt im Leben / etwas besonders Verführerisches für / den Menschen / und dieses Etwas ist, mit Recht / DIE KACKA. «Auf Französisch klang es sicher ganz anders. Egal wie man darüber dachte, man konnte immer etwas lernen von Rimbaud.
Noch stärker als die Texte beeindruckten Ed allerdings die Fotografien des Autors im Anhang (von einem Fotografen namens Georges Pastier) — er hatte noch nie einen Mann ohne Lippen gesehen. Artaud war ein Mann ohne Lippen. Sein Kinn stand vor, seine Nase stand vor, und statt eines Mundes gab es nur eine Mulde, durch die sich langhin und beinah bis an die Ohren eine Falte zog, mehr ein Strich eigentlich, der die Möglichkeit eines Mundes skizzierte. Besaß der Autor Antonin Artaud Lippen, so mussten sie innen liegen, das heißt, er hatte mit innenliegenden Lippen gesprochen. Eine vergleichbare Physiognomie, wenn auch nicht in dieser allerletzten Gestalt, war Ed bisher nur von Fotos des berühmten und bei den Esskaas, die Bücher lasen, hochgeschätzten Autors Heiner Müller in Erinnerung, der — Rimbaud zitierte es allenthalben — gesagt haben sollte:»Artaud, die Sprache der Qual!«Was Ed wiederum sofort einleuchtete. Und eigentlich wäre es das Privileg Rimbauds gewesen, an dieser Stelle die Verwandtschaft zu begründen und auf den Zusammenhang von Lippen und Literatur zu verweisen, stattdessen zitierte er noch einmal Müller:»Artauds Texte, auf den Trümmern Europas gelesen, werden sie klassisch sein.«
Ob, zum Beispiel, eine Literatur der Schmallippigen und Lippenlosen dann überhaupt noch Sinn machen würde? — Eds Frage verärgerte Rimbaud. Und Ed gab ihm recht. Sein Einwand war primitiv und Ausdruck reinen Übermuts. Ja, Ed war in Stimmung, in primitiver Hochstimmung sogar, denn er war der Mann, der C. gehabt hatte. Und C. hatte Lippen, Lippen ohne Ende.
20. Juli.»… plötzlich zu flüstern beginnt, aufsteht, singt und ein paar eckige Tanzbewegungen macht, dazu der Glanz in ihren Augen. Oder wenn sie zur Toilette geht, mitten in der Nacht, nach draußen tappt, in den Flur, und dabei die Arme in die Luft reckt und leise schnippt mit ihren langen Fingern, schnipp, schnapp, schnipp, wie Schritte in der Luft … Ich meine, sie macht das nicht für mich, nicht, damit ich es sehe. Manchmal waren wir gerade sehr still und … Wie soll ich es sagen? Ich glaube, es hat nichts mit mir zu tun und vielleicht nichts mit uns, nur mit ihr.«
«Gut möglich, Ed.«
«Ich bin nie auf diese Weise fröhlich gewesen.«
«Du bist anders fröhlich.«
«Seit G. nicht mehr, alter Racker.«
«Du hast Kruso gefunden. Du hast mich gefunden. Du bist nicht vollkommen allein auf der Welt.«
«Etwas habe ich dir verschwiegen.«
«Bitte, Ed. Du weißt, ich liege einfach hier, in dieser gemütlichen Höhle am Meer, und werde langsam eins mit den Gezeiten. Und du kommst mich besuchen und erzählst, ich meine, das ist das Beste, was mir passieren konnte, Gott, ich meine, ein Fuchs in meiner Lage …«
«Es war an unserem ersten Morgen. C. wie eine Erscheinung auf meinem Bett. Wie ausgedacht. Wenn sie das Haar hinters Ohr streicht und aufs Meer hinaus sieht … Vollkommen souverän, verstehst du? Sie sagt, sie macht nichts mit ihren Haaren, keine Frisur oder so, nur Haare, wie Fransen, die sie selbst abschneidet, wahrscheinlich mit ihrem Taschenmesser. Sie schaut also zum Fenster, und ihr Gesicht hat diesen vorweihnachtlichen Glanz, und alles glänzt mit, der Horizont, die Kiefern, alles. Und plötzlich fragt sie mich, ob ich es so lieber habe. «Ed errötete.
«Du hast geschlafen, als sie zu dir ins Zimmer kam, oder? Alles war ein Traum, und alles, was du getan hast, war …«
«Ein Traum. Trotzdem dachte ich, sie wäre deshalb nicht wiedergekommen.«
«Ich verstehe.«
«Ja, du verstehst.«
«Gewissermaßen war sie die Erste.«
«Ja, verdammt.«
«Also wirst du an sie denken, bei allem, was noch kommt, mein Freund. Sie ist dein Debüt, die Konfirmation und das Album dazu, in dem du in Zukunft deine Bilder sammelst.«
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