«Meine Eltern haben immer beides mit uns gesprochen, Deutsch und Russisch, manchmal sogar Kasachisch. Irgendwie ging es nach Räumen. In der Küche zum Beispiel wurde Russisch gesprochen, weshalb ich noch heute denke, Koch-Mike müsste Russe sein, aber dann ist dort Viola mit ihrem endlosen Deutschlandsender …«
Er verstummte und schien nachzudenken.
«Es wäre gut, wenn wir Viola bei Gelegenheit den Saft abdrehen könnten. Sie bringt einfach zu viel Unruhe, zu viel Unsinn ins Haus. Das ganze Festlandgeplapper, das nichts, absolut gar nichts mit uns hier oben zu tun hat, mit uns und unserem Leben …«
«Das wäre schade«, entgegnete Ed vorsichtig.»Immerhin ist Violetta, ich meine Viola, die älteste Bewohnerin des Klausners, und sie trägt den Namen einer Frau, die … Ich meine, du weißt, wie in Schuld und Sühne .«
Zwei Sekunden starrte Kruso in Eds Richtung, als gäbe es ihn nicht. Dann fuhr er fort in seinem Bericht.
«Als mein Vater meine Mutter kennenlernte, war sie Artistin in einem Zirkus in Karaganda, dort gab es viele Russlanddeutsche, ehemalige Wolgadeutsche. Es war ein stationärer Zirkus, mitten in der Stadt, mit einem großen Gebäude, sie hat uns Fotos gezeigt. Ein Foto mit ihr in einem hellen, glitzernden Kostüm, ganz jung sah sie aus, wie ein Kind, ein Zirkuskind. Meine Mutter war sehr beliebt in der Armee. Vor allen Regimentern ist sie aufgetreten, Mascha, Manjetschka, das Maskottchen, die Seiltänzerin, eine Kunst, die jeder Soldat der siegreichen Sowjetarmee wenigstens einmal in seinem Leben gesehen haben musste und so weiter, du weißt, die Russen lieben den Zirkus. Ein paar Sachen hat sie mir beigebracht, winzige Zaubertricks, obwohl ich dafür viel zu klein war und ungeschickt. Sonja hingegen hatte vieles ganz schnell drauf.
Nach meiner Geburt ist meine Mutter sehr krank geworden und eine Weile nicht mehr aufgetreten. Sie wollte nicht mehr auf Tournee, sie wollte überhaupt nicht mehr, so hat es mir Sonja später erzählt. Dann hat sie doch wieder angefangen. Ich bin sicher, dass der General, ich meine, der Mann, der sich vor uns als Vater aufspielte, sie dazu überredet hat. Es war einfach gut für ihn, für sein eigenes Ansehen in der Truppe. Da es nicht in allen Regimentern die hohen Hallen gab, fanden ihre Auftritte öfter im Freien statt, auf Appellplätzen, die mit Sand bedeckt oder mit den schmalen Bettmatratzen der Soldaten ausgelegt waren. Zur Sicherheit haben sie Tarnnetze gespannt, zwischen die Masten der Appellplatzlaternen, die immer brannten, immer und überall. Wie bei Festlichkeiten oder Vorbeimärschen saßen die Offiziere auf der Tribüne, die Soldaten hatte man ringsum antreten lassen, Kompanie für Kompanie …«Krusos Stimme hatte sich verändert; er sprach jetzt von seiner Mama .
«Sie nutzten die Auftritte Mamas, um Auszeichnungen an Offiziere und Soldaten zu vergeben, manchmal auch für Strafen. Der Offizier schlug dem Soldaten mit der flachen Hand ins Gesicht, links, rechts, mehr war es eigentlich nicht. Einmal, ich weiß nicht mehr wo, wurde plötzlich auch Mama nach vorn gerufen. Sie schien ganz überrascht und natürlich auch ängstlich und tippelte mit ihren weißen Ballettschuhen über die Matratzen der Soldaten, die einen ziemlich üblen Geruch verströmten. Sie sah aus wie von einem anderen Stern. Man verlieh ihr das Bestenabzeichen der Sowjetarmee, eine Soldatenauszeichnung. Unser Vatergeneral hat ihr das Abzeichen selbst angesteckt, ich weiß noch, wie schwer es ihm fiel, die Nadel durch das silbern geschuppte Kostüm zu stechen, und dass ich Angst um sie hatte dabei. Jedenfalls schaffte er es irgendwie und hat seine militärische Ehrenbezeigung gemacht, salutiert vor seiner eigenen kleinen Frau im silbernen Turndress, sie dann aber doch noch geküsst, worauf ihm seine Uniformmütze schief auf dem Kopf saß, die ganze Vorstellung lang. Die schiefe Mütze, sein verlegenes Lächeln und die tausend Soldaten ringsum, die Freude in ihren kindlichen Gesichtern, ich glaube, dafür hat sie das alles gemacht …
Ich saß ja immer ganz vorn, in der ersten Reihe. Vom Kommandeur bekam ich Konfekt, Mischka-Schokolade in blau-weißem Papier. Auf dem Papier war ein kleines Bild, drei Bärenkinder und ihre Bärenmutter. Manchmal gab es auch Eis. Oft wurde mir schlecht vom Knoblauchgestank der Uniformen. Vielleicht war es auch meine Angst. Es war nicht so leicht zu verstehen für mich, warum sie immer wieder dort hinaufsteigen musste, auf dieses Hochseil, warum sie sich dauernd in diese Gefahr begab, vor meinen Augen. Auf keinen Fall durfte ich denken, dass Mama herunterfallen könnte, denn dann würde sie herunterfallen, das war sicher.
Die beste Variante war, zu denken, dass sie nie herunterfallen würde, und zwar ununterbrochen, nur diesen Gedanken, sonst nichts, aber das war sehr anstrengend, und ich schaffte es nie lange genug. Von irgendwoher sickerte immer das Böse herein, der böse, verbotene Gedanke, der vernichtet werden musste mit großen Geschützen und verbündeten Monstern, wofür ich mir eine ganze Armee ausdachte und Waffen, die es gar nicht geben konnte, so groß, aber immer fand das Böse ein Schlupfloch in meinem Kopf.
Die zweitbeste Variante war, sich abzulenken. Das Papier vom Konfekt glattzustreichen, ewig, mit dem Fingernagel. Ich versuchte, einfach nicht mehr so ganz genau auf Mama zu achten, aber das funktionierte nicht. Es klappte nur, wenn ich meinen Kontakt zu ihr praktisch vollständig abbrach, alle Gefühle und mich selbst ganz zurückzog, also nur noch mein Fingernagel und das Mischkapapier und sonst nichts auf der Welt.
Als ich sechs war, stürzte sie ab, einen Tag nach meinem Geburtstag. Ich hörte etwas Dumpfes. Das war der Aufschlag. Ein dumpfer Aufprall, wie von einem Sack. Plötzlich lag sie vor mir auf dem Boden. Ein Bein war so zur Seite gedreht, als gehöre es nicht mehr zu ihr oder als hätte es jemand an ihren Körper so herangeschoben. Eines ihrer Zauberkunststücke. Der Kopf steckte zwischen zwei Matratzen, als wollte sie weg, wegkriechen, verschwinden …
Natürlich habe ich gar nichts begriffen. Es war Zirkus. Und mir blieb auch nichts anderes übrig, als zu lachen; ich lachte. Ich steckte mitten in der zweitbesten Variante, ohne jeden wirklichen Kontakt zu Mama, verstehst du, Ed?«
Wie lange glattgestrichenes Schokoladenpapier verwahrte Kruso das sorgsam gefaltete Blatt mit dem Trakl-Gedicht in seiner Hosentasche, und als befände er sich noch immer in der zweitbesten Variante, schaute er lange einfach zum Fenster hinaus.
«Ein paar Offiziere stürzten auf sie zu und beugten sich über sie. Irgendwann sagte einer zu mir, ich solle aufstehen. Wstan, moj maltschik , er sagte es ganz leise. Meine Hand war nass und in meinem Schoß eine klebrige Pfütze, das geschmolzene Eis. Es war der dritte Juni 1967. Ich war sechs Jahre alt. Sechs Jahre und einen Tag.
Ab Anfang der siebziger Jahre wurden die Toten der sowjetischen Armee nach Hause geflogen. Meine Mutter war eine der Letzten, die hierblieb. Ich bin sicher, dass ihr das nicht recht gewesen wäre, schließlich wollte sie immer heim. Im offenen Sarg wurde sie durch das Städtchen getragen, die Ulica Centralnaja hinauf und hinunter bis zum Blechtor, zweimal an unserem Haus vorbei und dann zum Denkmal der im Krieg gefallenen Geheimdienstleute. Vorn marschierte ein Sergeant mit Mamas Bestenabzeichen, es lag auf einem kleinen Kissen. Er marschierte im Stechschritt, so hart, dass die Absätze auf der Straße knallten, ansonsten war es vollkommen still. Ich stand auf der Treppe vor der Tür, weiter durfte ich nicht. Trotzdem habe ich gesehen, dass sie ein rotes Kostüm trug. Die Erwachsenen werden in Rot begraben, die Kinder in Weiß, so hat es mir meine Schwester erklärt, sie war die ganze Zeit an meiner Seite.
Vor dem Friedhofstor küssten sie Mama und dann noch einmal am Grab, so machte man das. Am Grab gab es Ehrenbezeigungen, wie für einen hohen Offizier, was garantiert gegen die Vorschriften war. Vom Friedhofstor an spielte ein kleines Orchester» Treue Kameraden«. Gesungen wurde nichts. Mein Vater ließ Ehrensalven schießen, Salven ohne Ende. Die Leute liebten sie eben, und ich liebte sie auch, konnte sie aber nicht küssen. Ich glaube, es gab niemanden, der mir das übelnahm, außer ich selbst, ich schämte mich. Statt zu lachen, versuchte ich zu weinen, aber es klappte nicht, ich kam einfach nicht heraus aus Variante zwei. Meine Schwester hat kleine Zauberkunststücke vorgeführt, alles, was sie von Mama gelernt hatte, ohne zu zittern, neben dem Grab. Von da an wusste ich, dass sie es war, an die ich mich halten musste, für den Rest meines Lebens — nicht, dass ich etwas wie Rest meines Lebens hätte denken können, aber gefühlt habe ich es, eindeutig gefühlt. Überhaupt hatten wir keine Vorstellung davon, wie es weitergehen sollte, ohne Mama.
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