Zuerst hatte sich Kruso zwischen die Beete gekniet und seine Hand (vorsichtig) auf einen der Maulwurfshügel gelegt. Dann begann seine Unterweisung. Ed hockte neben ihm und spürte ein leises Ziehen in den Lenden. Er sah, wie Kruso ein paar Mal über die Erde hinstrich, erst zärtlich, wie bei einer Brust, die man wie abwesend berührt, ohne Denken, nur der unvorstellbaren Glätte und Weichheit wegen, dann noch sanfter, wie beim letzten Glätten einer mühevoll errichteten Sandburg aus Kindertagen, dann aber fast ansatzlos eindrang und mit Kraft hineinbohrte in den Haufen.
«Die Löcher, es geht um die Löcher. Zuerst legst du die Löcher frei. Dann setzt du die Flaschen ein, die Hälse auf Nordwest.«
Erst jetzt bemerkte Ed, dass die Sonne orange wie ein fremder Mond am Himmel stand, obwohl es kaum Abend war. Die kleine Narbe über seinem Auge summte, er hörte die Hufschläge seines Bärenpferds von sehr weit her, den aufjaulenden Diesel eines Patrouillenbootes draußen auf dem Meer, und er konnte einzelne Sätze verstehen, die an den Tischen hinter den Mauern der reetgedeckten Häuser gesprochen wurden. Als wäre er zum ersten Mal Teil dieser Welt. Die Dinge ringsum leuchteten in ihren irrsinnigen Farben, und irgendwann, übertölpelt von Schönheit, legte Ed das Ohr auf die Erde und hörte den Ton …
Alles hatte sich verändert über Nacht.
Vom Hitthim her hatten sie die leeren Flaschen in großen stockfleckigen Jägerrucksäcken herangeschleppt. Ihr Geruch erinnerte Ed an frühere Manövertage, an den mit altem Schweiß verklebten Gummi seiner Gasmaske, wenn er vergessen hatte, sie nach der Übung zum Trocknen auszulegen.
Jeder Schritt war ein feines Klirren gewesen. Rucksack an Rucksack, in dieser Zwillingsgestalt fühlte Ed ein gewisses Recht, das Grüßen der Einheimischen am Weg auch auf sich selbst zu beziehen, und manchmal nickte er zurück, obwohl er schon wusste, dass er nicht wirklich gemeint war — noch nicht , dachte Ed, und für einen Moment spürte er den Funkenflug einer unfassbaren Brüderlichkeit.
Eds Euphorie übertrug sich auf sein Beisammensein mit Kruso, weshalb es ihm erlaubt schien, seinem Freund zunächst nichts von C. zu erzählen. Auch, um seine sensible Position bei den Vergaben nicht zu gefährden. Und insgeheim konnte er hoffen, dass der Fehler in der Verteilung der Schiffbrüchigen (worum sonst sollte es sich handeln) noch ein, zwei weitere Nächte unentdeckt bleiben würde, oder wenigstens noch eine — eine einzige Nacht, dachte Ed. O, köstlicher Schiffbruch!
Ja, er war stolz auf Kruso, und er fürchtete ihn zugleich, und es war so, dass beides zusammengehörte. Krusos Unbedingtheit machte ihm Angst, sein Widerstandsphantasma, die» Organisation«— eine Verrücktheit ohnegleichen, dazu seine Düsternis, seine fanatische Entschlossenheit. Aber viel schwerer wog die Offenheit, mit der Losch ihn angenommen hatte, seine lodernde Ehrlichkeit und der Respekt, den er Ed entgegenbrachte, gerade dort, wo seine größte Schwäche, sein eigener Irrsinn wurzelte — mein eigenes Unglück, flog es Ed durch den Kopf, und fast machte ihn dieser Gedanke froh. Genau in jenem Moment, in dem es für alle offen zu Tage getreten war, hatte Losch zu ihm gestanden, auf eine leise, fast zärtliche Art. Ed hatte keine Ahnung, wer Kruso war, aber manchmal schien er ihm so vertraut wie seine eigene Seele.
Im Wieseneck stand ein dritter Rucksack für sie bereit, den Losch sich ohne weiteres vor den Bauch hob. Und vor der Inselbar glänzte ein zweirädriger Blechkarren in der Sonne, mit Flaschen gefüllt. Es war ausschließlich» Blauer Würger«, jene Marke, mit der Ed im Turm, vor der» Karte der Wahrheit«, Bekanntschaft geschlossen hatte. Das Fenster zum Gastraum lag nur knietief über dem Boden, man blickte direkt hinter den Tresen. Kruso trat heran, und ein Mann beugte sich heraus. Wange an Wange, so standen sie für eine Weile, dann ergriff der Mann Krusos Hand und drückte sie an seine Brust. Ed beeilte sich, die Deichsel des Karrens zu ergreifen; er schob das Gefährt durch ein Loch im Sandweg, die Ladung klirrte — ein Aufschrei.
«Santiago«, erklärte Kruso, während sie weiter ortsauswärts zogen.
«Ich weiß«, antwortete Ed.
Das Graben, die kühle, frische Erde. Schon von der Berührung wurde Ed steif. Dass er überhaupt so empfinden konnte … Es gab Reste, winzige Gerinnsel, weshalb Kruso ab und zu eine Flasche zum Mund hob, bevor er sie eingrub.»Es ist ihr Ohr, ihr empfindliches Ohr, das treibt sie in den Wahnsinn. Es ist das einzige Mittel, die einzige Sprache, die sie verstehen.«
Die in der Sonne funkelnden Flaschenhälse sahen aus wie frisch gepflanzt, der ganze Garten wirkte jetzt festlich, wie geschmückt, glänzend von gläsernen Schwänzen.
Ein feines, unablässiges Pfeifen.
Nach einer Weile hörte es Ed. Wie ein wild gewordenes Kind sprang Kruso zwischen den Hügeln umher und korrigierte die Hälse der Flaschen, während der Wind stärker wurde und das Pfeifen hohler und bedrohlicher machte, ähnlich dem Horn eines Schiffes im Nebel. Wenn der Wind etwas drehte, kam ein phantastischer Gesang zustande, eine Sirenenmusik. Wie hypnotisiert, mit den Händen in der feuchten Erde, die Finger leicht gekrümmt und in einer kleinen, unendlich tastenden Bewegung begriffen, starrte Ed auf seinen noch immer hektisch hin und her springenden Gefährten, der wild gestikulierend sein Instrument justierte, und plötzlich, einem Wunder gleich: lachte. Kruso lachte und sprang, sprang und lachte.
«Abfahrt, ihr Biester, Ausfahrt, ahoi!«
«Ausfahrt, Abfahrt«, echote Ed und riss die Hände in die Luft.
Die Erdorgel zur Austreibung der Maulwürfe sei eine Idee seines Großvaters gewesen, der als Wissenschaftler noch viel größere Erfindungen gemacht … Es war das erste Mal, dass Kruso seine Familie erwähnte. Schon damals hätte man ausschließlich» Blauen Würger «verwendet, die Form der Flaschen sei dafür wie geschaffen, auch das hätte sein Großvater herausgefunden — »sich einen einpfeifen, wie man so sagt, verstehst du, Ed?«
Eine kleine weißhaarige Alte tastete sich die Umzäunung entlang. Mit der Linken umklammerte sie die Latten des Zauns, dabei hielt sie ihren Kopf leicht erhoben, als suche sie die Sonne — oder den Mond, dachte Ed.
«Dat piept«, nuschelte die Alte,»dat piept däm Mullwurm in'n Dötz.«
Losch ging rasch auf sie zu und ließ sich von ihr streicheln. Sein Brustbeutel lag dabei schief auf ihrem Kopf, wie ein kleiner Wildlederhut. Er nannte sie Mete, Mutter Mete. Während er die Alte durch den Garten führte, gab er ihm Zeichen, und Ed sammelte ein paar übriggebliebene Würger ein. Mutter Mete trug eine riesige hellbraune Plastikbrille und, obwohl es sehr warm war, eine Strickjacke. Kruso flüsterte ihr etwas zu, und sie nickte.
Am Ende hatten sie es auf über fünfzig Flaschen gebracht, vergraben in der Erde des Gartens, der neben dem Pfarrhaus von Kloster lag und nur aus ein paar Beeten, Obstbäumen und einer Hütte bestand, der hölzerne Boden mit Schlafsäcken bedeckt. Als sie abzogen mit ihrem scheppernden Karren, hob Mutter Mete noch einmal den Kopf und winkte ins Nichts.
«Dat piept, min Jong, dat piept.«
Im Hafen, auf einem kleinen, halb vertrockneten Rasenstück, das als Parkplatz diente, legte Kruso den Karren um und zog ihn in eine Reihe. Genau genommen war es keine Reihe, sondern ein wildes Kreuz und Quer von nahezu dreißig oder vierzig dieser verbeulten Blechvehikel, die Aufschriften trugen an ihren Unterseiten. Jede Karre hatte einen Namen, deren Abfolge Ed automatisch rhythmisierte (eine seiner Mnemotechniken, Teil jener nicht abstellbaren Mechanik zur Anhäufung von Beständen), so dass ihm der ganze Namenstext aus schwarzer, blauer oder roter Lackschrift augenblicklich als Gedicht vor Augen stand:
Dornbusch, Hauptmann, Wieseneck
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