«Ich glaube nicht, dass wir am selben Tisch gesessen haben.«
«Tut mir leid, ich war einfach eingeschlafen. Eine Nacht am Strand, eine im Wald, ich war wohl vollkommen am Ende.«
«Wenn du geschlafen hast, wie kommt es dann …«Ed verstummte. Sein Geschlecht auf ihrem warmen Bauch. Er wollte für immer so bleiben. Sein Leben lang. Das Mädchen lächelte ihn an, und Ed sah, dass sie froh war, untergekommen zu sein.
Das musst du nicht tun.
Nur dieser eine, vollständige und in Wirklichkeit gesprochene Satz. Ein Angebot. Fair und freundschaftlich.
In der Regel wurde Krusos Route über die Insel von den Ruhetagen der Gastwirtschaften bestimmt. Er traf Kellner, Hausmeister und Tresenleute, mit denen er dann in einer Ecke des leeren Schankraums hockte, oft auch in der Küche, während Ed vorn an der Bar auf ihn wartete und die Stille genoss. Er musste nie etwas bezahlen bei diesen Gelegenheiten und wurde, trotz Schließtag, ohne weiteres bedient. Einige der Esskaas kannte Ed bereits von den Abenden der Vergabe, an denen er zuletzt wieder teilgenommen hatte, aber nur um Kruso zu unterstützen. Er half im Ausschank und in der Verteilung des Proviants, und er sah nach der ewigen Suppe, die ab und zu umgerührt werden musste. Im Laufe des Abends konnte jeder der Schiffbrüchigen mit einem gut gefüllten Teller rechnen.
Als gäbe es ein freundliches Tabu wurde sein Trakl-Debakel niemals erwähnt, obwohl die Esskaas nicht selten versuchten, ein Gespräch anzuknüpfen. Insgeheim bewunderte Ed ihre Lebensfestigkeit, ihr aufgeräumtes Gemüt und ihre offenen Gesichter. Sie atmen anders, dachte Ed, sie holen länger Luft, und sie atmen länger aus, als hätte das Meer ihre Lungen geweitet und ihr Denken befreit. Jede ihrer Bewegungen vermittelte den Eindruck, mit etwas Wesentlichem beschäftigt zu sein; ihr Leben selbst war wesentlich, unabhängig, voller eigener Interessen, und obwohl Ed mehr als einmal den Wunsch verspürt hatte, Teil dieser Sphäre zu werden, blieben ihm die vom Widerschein des Meeres und der ganzen Inselhelligkeit leuchtenden Augen so fremd und fern, dass es ihm nie wirklich gelang, den Faden eines Gesprächs aufzunehmen. Ein gewisses Hindernis war auch, dass niemand fragte, wo einer herkam und was er früher getan hatte, auf dem Festland. Wenn Ed erzählte, dass er (eigentlich) Student sei, erlosch das Meeresleuchten in den Augen. Als ob man schon immer Kellner oder Abwäscher gewesen war und auch nichts anderes gewollt hatte im Leben. Kaum einer, der über den Grund seines Hierseins sprach; vielleicht war das keine Regel, nur einfach nicht interessant genug.
Am liebsten saß Ed auf der Veranda des Hafenhotels. In der hintersten Ecke dieses Vorbaus, der lediglich aus ein paar klapprigen Fensterrahmen zusammengesetzt schien, stand ein großes heruntergekommenes Ledersofa, wie übriggeblieben aus einer lange vergangenen Zeit. Selbst beinah unsichtbar, hatte er von dort einen guten Blick auf das Hafengelände, die einfahrenden Dampfer, die Urlauberströme und den verrückten Jungen, der auf und ab lief am Kai und lauthals herumkommandierte, als wüsste er genau, worum es ging in dieser Saison.
Es gab nichts Besseres, als dort zu sitzen, allein, und über die leeren sauberen Tische nach draußen zu träumen. Es gab nichts Schöneres, als sich zurückzulehnen, den Arm über die Lehne des Sofas zu strecken und mit der geöffneten, vom Abwasch rissigen Hand über das kühle glatte Leder zu streichen. Nichts war angenehmer, als ein Glas ganz langsam an den Mund zu führen, hineinzuatmen, den eigenen Atem im Gesicht zu spüren.
Er stellte sich vor, wie sie irgendwann in seinem Zimmer gestanden haben musste. Wie sie sich lautlos entkleidet und einen Moment gezögert hatte, frierend vielleicht. Ihr schlanker Körper, die Unsicherheit, das Tasten. Das Fenster offen, wie immer. Vom Meer kein Licht, nur das Auf und Ab im Rauschen, das einen Vorschlag unterbreitete, einen geheimen Plan für alle kommenden Nächte.
Sogar Eds Leibgericht (Bratkartoffeln mit Spiegelei) galt inzwischen als bekannt unter den Esskaas. Im Fahrwasser Krusos hatte er es zu einem gewissen Inselruhm gebracht — Edgar Bendler, der Gefährte Krusos. Es machte ihm nichts aus, dass Losch ihn nicht an seiner Seite beließ bei den Gesprächen, den Vorbereitungen zum Tag der Insel zum Beispiel, der für den ersten August geplant war und Sorgen zu bereiten schien. Die Freundlichkeit, mit der Ed bedient wurde, war gezeichnet von dieser sanften Degradierung, Ed spürte das. Man betrachtete ihn als ein Werkzeug Krusos (immerhin, Respekt dafür), aber doch auf eine Weise lächerlich in seiner Anhänglichkeit und schwächlich in seiner gesamten Erscheinung — Ed, die Zwiebel, der Schweiger, der stumm in seiner Ecke hockte, zu keinem vernünftigen Gespräch in der Lage war und unverwandt zum Fenster hinausstarrte, als geschähe dort etwas anderes als das stupide Hin und Her der Tagestouristen, von denen Hunderte die Klinke zum Gastraum niederdrückten, mehr oder weniger fest und fassungslos über ihr Unglück, gerade an einem Ruhetag des Hafenrestaurants auf der Insel gelandet zu sein — nein, Ed kam das, was er bei sich Krusos Vorsicht nannte, entgegen. Wenn es denn Vorsicht war und nicht einfach Güte und der Versuch, einen Freund, durch dessen Schädel Verse marschierten wie im Krieg, aus all dem herauszuhalten, was zum täglichen Geschäft eines STATTHALTERS DIESER INSEL gehörte, kurz gesagt, ihn aufzusparen, für anderes, das Eigentliche …
Es geschah, dass Ed sich solchen Phantasien hingab. Bin ich nicht wie das Kind in seinem Versteck, dachte Ed, eingeschlossen und ganz leise, aber mit jedem Herunterdrücken der Klinke schlägt das Herz etwas höher, mit jedem Herunterdrücken kommt das Kind sich verbotener vor.
Aus der Küche kamen Stimmen, dann das Geräusch eines metallenen Gegenstands, der über den Steinboden schlitterte. Ed lauschte, wie er immer lauschte, unbewusst, absichtslos und nicht bereit, seine Abwesenheitskapsel aufzugeben. Noch einmal stand ihm C.s Gesicht vor Augen, die schmalen, hochgezogenen Brauen, die hellglänzende Stirn und ihr aufmerksamer, neugieriger Blick, als sie Ed in den Mund genommen und dabei nicht aufgehört hatte, ihn anzusehen.
Kruso!
Kruso brüllte. Allein bei ihrer Treibjagd am Strand hatte Ed ihn so gehört, derart außer sich. Es krachte, etwas brach sich Bahn, und die Schwenktür zur Küche sprang auf. Jemand wurde gestoßen, stürzte, ging auf die Knie und weinte, schluchzte in sich hinein — es war René, der Eisverkäufer. Hinter ihm standen zwei Esskaas des Hitthim, mit weit ausgebreiteten Armen, als ginge es darum, einem Tier, das zum Schlachtplatz getrieben wurde, den Rückweg in den Stall abzuschneiden. Nach einer Weile hob René das Gesicht, und Ed sah, dass er lachte, dass er sich kaum halten konnte vor Lachen.
«Alles wegen dieser Schlampe, der ganze …«
Einer der Esskaas trat René in den Rücken, und er verschluckte das Wort. Es war kein allzu kräftiger Tritt gewesen, aber Ed fuhr zusammen, wodurch René auf ihn aufmerksam wurde. Er kehrte um, fletschte die Zähne und tappte wie ein Hund auf ihn zu. Ed erstarrte. Langsam zog er die Hand, mit der er soeben noch versucht hatte, seine Begierde zu ertasten, vom Leder des Sofas zurück.
«Das Hündchen, das Hündchen ist auch da!«
René begann, ein Geräusch zu machen, und es dauerte ein paar Sekunden, bis Ed begriffen hatte, dass es ein Kläffen war. Dann schnellte er plötzlich in die Höhe und flüchtete nach draußen.»Das Hündchen, das Hündchen …«Noch einmal hörte Ed das Gekläff, dann verschloss der Tresenmann die Tür, und alle verschwanden wieder.
«Entschuldige Ed. Hast du deine Bratkartoffeln schon gegessen?«Langsam legte Losch seine große warme Hand auf Eds Kopf, als wollte er ihn streicheln, aber es war nur die Geste, die zu seiner Frage gehörte, und augenblicklich hatte Ed vergessen, wofür sein Freund sich bei ihm entschuldigte.
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