«Ich nehm ihm das nicht übel«, erklärte Santiago.
«Was?«, fragte Ed.
«Sie sind beide hier aufgewachsen, er und seine ertrunkene Schwester. «Santiago berührte den nassen Drahtzaun wie eine Kostbarkeit.»Hier sind sie groß geworden, hier auf dem Rommstedt-Hügel.«
Schwarze Quartiere
Krusos Organisation — oder wie sollte man es nennen? Rettungsschwimmer, Hausmeister, Kellner, Tresenleute, Vogelberinger, Beiköche, Abwäscher, Küchengehilfen — alle schienen untereinander in Verbindung zu stehen. Der Entschluss, auf der Insel zu leben (wenigstens zu übersommern , wie Cavallo es ausdrückte), genügte, um voneinander das Wichtigste zu wissen, und wirkte wie ein unsichtbares Band: Wer hier war, hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten.
Ihre Unterstützung für Krusowitsch bedeutete zuerst nicht mehr als eine ihrer munteren Selbstverständlichkeiten — wie das Nacktbaden am Kellnerstrand, das Feuer um Mitternacht (obwohl verboten) oder die Discotheken im Dornbusch, bei denen man für 2,75 Mark (nicht viel mehr als ein Stundenlohn) eine Nacht lang zwischen zwei gegenüberliegenden Tresen hin und her steppen konnte. Die Tresen waren nach den Männern hinter der Bar benannt. Am sogenannten süßen Ende des Dornbuschs (dem Heinztresen) wurden ununterbrochen grüne, braune und rote Liköre ausgeschenkt, am sauren Ende des Saals (dem Heinertresen) flossen Wein, Wodka und» Würger«, dazu» Stralsunder «und gelegentlich auch ein selbstfabriziertes Sanddorngebräu» auf Würgerbasis«, wie es hieß. Allein diese von den Esskaas an fünf Abenden in der Woche zelebrierte» Opposition der Tresen«(ein Wort Rimbauds) enthielt einen Begriff von politischer Bedeutung. Der Heinztresen war süß, der Heinertresen sauer, so viel war sicher, und zwischen Heinz- und Heinertresen spielte das Leben. Heinz oder Heiner: Niemand hätte darin einen unlösbaren Widerspruch entdeckt, auf ihrer Insel existierte kein Antagonismus, erst recht kein unversöhnlicher: Von süß zu sauer, von sauer zu süß, so wogte der Abend, weit über den Saal des Dornbuschs hinaus, über die Wiesen und Dünen bis an den Strand, über das Meer bis an den Horizont, die Grenze, unsichtbar in der Finsternis.
Zehn Prozent Land, neunzig Prozent Himmel: Dass sie hier waren, auf der Insel, genügte. Erst recht für ihren Stolz. Die Insel adelte ihr Dasein. Diese Schönheit, die einfach unbeschreiblich war und wirkte. Die Magie ihrer Schöpfung. Das Festland bildete dafür nicht mehr als eine Art Hintergrund, der langsam verwischte und erstarb im immerwährenden Rauschen des Meeres; was war schon der Staat ? Jeder Sonnenuntergang tilgte sein starres Abbild, jede Welle wusch den trostlosen Umriss dieses abgenutzten Faustkeils von der Oberfläche ihres Bewusstseins. Sie waren die Reiter des Seepferdchens mit dem Flattermaul, sie tanzten dem Faustkeil auf der Nase herum, unterwegs zwischen sauer und süß.
Mit Sicherheit lag den Esskaas nicht besonders daran, Schiffbrüchige oder Obdachlose, wie Kruso sie nannte, auf das Gebiet irgendeiner neuen Freiheit zu führen. Aber sie spürten Krusos Willen, seine Kraft. Eine Atmosphäre der Fremdheit ging von ihm aus, die begeisternd wirkte. Vor allem seine Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit waren es, die den Unterschied machten. Was er sagte, war vollkommen frei von Zynismus oder Ironie, und was er vorschlug, verkörperte geradezu das Gegenteil jener alten Inselgewohnheit, die Dinge mehr oder weniger spielerisch anzugehen. Insgeheim (und ohne dass sie es hätten zugeben wollen) entbehrte ihre Inselexistenz dieser Substanz, sie entbehrte einer Aufgabe, einer Idee, etwas über das tägliche Süß-Sauer hinaus.
Dabei trat Kruso nie als Anführer auf, aber er organisierte Aktionen, plante, sammelte, stellte Verbindungen her zwischen den über die Insel verstreuten Kreisen der Esskaas und hielt sie aufrecht. In erster Linie zählten dazu jene Kreise, die sich ohne weiteres zu einzelnen Gastwirtschaften rechnen ließen, wie die Gruppe rund um die Inselbar, von denen einige im Wollnerhaus schliefen, neben dem Inselmuseum. Zu ihnen pflegte Kruso die allerbesten Kontakte, darunter Männer wie Santiago, Tille, Peter, Indianer, Spurtefix oder Frauen wie Janina, Sylke und Antilopé. Dann gab es auch solche Esskaas, die sich selbst zu verschiedenen Feuern zählten, an denen nachts gegrillt, getrunken und regelmäßig die» Freie Republik Hiddensee «ausgerufen wurde, darunter das Enddorn-Feuer zum Beispiel mit A. K., Ines, Torsten, Christine und Jule. Darüber hinaus eine Gruppe älterer Esskaas mit Ausreiseantrag, ab und zu bildeten sie einen eigenen Kreis am Heinertresen. Sie hatten sich abgelöst und waren tief, vielleicht schon zu tief versunken in den Zustand des Wartens, wobei Ed nicht selten den Eindruck gewann, dass sie das Warten selbst vergessen hatten, als ob ihr Leben ohnehin längst außerhalb läge, nicht nur außerhalb des Landes, auch außerhalb der Zeit, deren zählbarer Verlauf von der Insel und ihrer Magie außer Kraft gesetzt war. Als hätte sich ihr Wartezustand zu einer Art paradiesischem Jenseits verdichtet. Eine Form der Selbstimmunisierung, urteilte Kruso, die auch darauf abziele, die freiheitseinflößende Wirkung der Insel wenigstens in Teilen abzuwehren, was er keinesfalls verurteilen wolle, wie er betonte, im Gegenteil. Unter diesen Umständen kam es vor, dass die Bewilligung eines Ausreiseantrags diesen oder jenen zunächst traf wie ein Schlag. Auf der Insel waren sie weit abgetrieben, und plötzlich hieß es, aufzutauchen und zurückzurudern in den offiziellen Ablauf der Zeit — oft blieben dafür nur wenige Tage.
Aufgeschlossener zeigten sich die Kreise der blutjungen Esskaas, die mit ihrem achtzehnten Geburtstag beschlossen hatten, ihr Leben auf der Insel zu verbringen und nirgendwo sonst, darunter die Punks. Weil man sie nicht vorzeigen konnte, schafften sie es nie in den Service und landeten fast immer im Abwasch, wo sie Außerordentliches vollbrachten. Tatsächlich galten die Punks als die besten Abwäscher der Insel. Legendär waren ihr Fleiß und ihre Zuverlässigkeit.»Arbeiten wie die Teufel«, erklärte Kruso. Ata im Norderende oder Dirty im Hitthim waren Namen, die man kannte und schätzte. Zudem existierte eine Allianz zwischen Punks und Langhaarigen, die ihre Position verbesserte und einen gewissen Schutz darstellte, wenn es darauf ankam.»Wie Leute aussehen ist mir egal, wenn sie arbeiten«, verkündete die Chefin der Inselbar.
«Hiddensee ist auch ein Schwulenparadies«, bemerkte Kruso leise, dabei standen sie am Heinztresen, der genau genommen der Heinz-und-Uli-Tresen war, das süße Ende des Dornbuschs, wo Losch und neuerdings auch Ed ihre Getränke gegen geringes Entgelt bezogen. Ohne Zweifel hielten Heinz und Uli sie für ein Paar, was Kruso nicht besonders zu stören schien. Der Dornbusch (und nicht nur die Schwulen dort) waren Hauptrivale des Klausners beim jährlich stattfindenden Fußballturnier, das niemand anders als Kruso organisierte. Das Turnier galt als Höhepunkt beim» Tag der Insel«, einem inselweiten Fest der Esskaas, unterstützt auch von Einheimischen und Kneipenbetreibern wie Willi Schmietendorf, dem Chef des Dornbuschs, der dem Sieger ein Fass Bier spendierte, während Krombach die Sache ganz seinem obersten Abwäscher Alexander Krusowitsch überließ.
Durch Kruso entstand ein Netz von Kontakten und Aktionen, das den Esskaas behagte, weil es ihre Besonderheit unterstrich und ihnen ein Bewusstsein ihrer Einzigartigkeit verschaffte, jener sonderbaren, schwer zu begreifenden Form legaler Illegalität in einem Land, das sie entweder ausgespuckt und für unbrauchbar erklärt hatte oder dem sie sich schlichtweg nicht mehr zugehörig fühlten. Rimbaud hatte im Falle der Esskaas den Begriff der inneren Emigration angewandt, wobei ein jeder täglich hart arbeiten müsse für sein Bleiberecht.
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