«Mensch, Heiko.«
Das Meer war jetzt eine leise rauschende Leinwand. Etwas Mond-Beleuchtung umriss das Geschehen, alles ohne Musik, allein mit dem verhaltenen Anrollen der See. Sporadisch zuckte der schrille Laut eines Vogels durch die Nacht.
«So leicht sind sie aus der Fassung zu bringen«, flüsterte Kruso,»so verdammt leicht. Das ganze System besteht nur aus Menschen, Ed. Ich meine, die da drüben, das sind wir , in früherer Zeit, wir selbst vor der Freiheit, verstehst du?«
Ein Alptraum, dachte Ed. Er hatte Kopfschmerzen und fühlte einen metallischen Geschmack im Mund. Der Soldat, der Heiko genannt worden war, stand immer noch da, wie versteinert auf halbem Weg zu ihrem Gebüsch. Der andere schob ihm die Waffe über die Schulter und packte ihn mit beiden Händen am Kragen. Heiko. Dann stiefelte er mit raschen Schritten die steinige Küste hinunter. Nach ein paar Sekunden erwachte der Soldat aus seiner Starre und begann zu traben, in einem unbeholfenen, wie gefesselt wirkenden Schritt, sein Stahlhelm schlug gegen das Koppel. Eine Weile hörten sie noch den stumpfen, metallischen Ton.
Die Karte der Wahrheit
9. JULI
Treibjagd mit Kruso und anderen Esskaas, ohne Waffen, nur Töpfe und Knüppel. Danach gab es Zander für alle, gebraten am Strand, in Knoblauch und Sanddornsoße. Der Fisch lebte noch. Man muss ihm in die Augen fassen, damit er nicht beißt, sagt Koch-Mike. Rimbaud und das Tresenehepaar haben Kampflieder gesungen, durchs Gebirge, durch die Steppe zog … Rick mit seinen Geschichten. Er sagt, Leute wie Hauptmann hätten sich an der Insel vergangen. Karola hat Cavallos Sonnenbrand mit Quark verarztet. Sie ist die Medizinfrau hier, eine hübsche Kräuterhexe. Jeden Tag bringt sie uns frischen Tee in den Abwasch, und gestern stand sie plötzlich hinter mir. Dann das Eis und ihre Fingerspitzen, neben der Wirbelsäule, rauf und runter — eine Art Eiswürfelmassage, gut gegen meine Rückenschmerzen, das war Wahnsinn! Seit es so heiß ist, haben wir noch mehr Kakerlaken im Haus. Schaffe jetzt jeden Morgen vier, fünf Stück, manchmal sogar mehr.
Am Kellnerstrand trafen sie andere Esskaas, Tille, Spurtefix, die hochgewachsene Sylke mit ihrer dicht von Sommersprossen bedeckten Haut, Antilopé, die Freundin Rimbauds, oder Santiago aus der Inselbar, mit dem Kruso gut befreundet zu sein schien. In der Regel trat man sich nackt gegenüber. Schon beim Begräbnis des Lurchs hatte Ed es gespürt: eine nahezu geschwisterliche Nähe, die aus dieser natürlichen, ohne besonderen Anlass auftretenden Nacktheit erwuchs. Etwas, das Ed nie erfahren hatte, eine spezielle Vertrautheit, die Menschen auf diese Weise miteinander erreichten, eine Form zwangloser Verbundenheit — eine kollegiale Intimität, falls es das gab. Als sei die Nacktheit in Wahrheit ein Siegel, eine Art Lohn, dachte Ed, für die gemeinsam überwundene Scham, keine Schamlosigkeit jedenfalls. Die Scham blieb dabei unversehrt, im Innersten des Bündnisses, und so konnte auch der Gruß der Esskaas (die Wangen aneinanderlegen) viel besser verstanden werden. Es war das Erste, was Ed wirklich begriff über die Inselkaste und den Zusammenhalt ihrer weit über die Insel verstreuten Kreise.
Am Ende ihres Streifzugs hatte Kruso vorgeschlagen, einen Abstecher auf den Schwedenhagen zu machen,»zu mir nach Hause«, wie er sagte, in verächtlichem Tonfall. Bis dahin hatte Ed nicht daran gedacht, dass es auch für Kruso noch ein anderes Zuhause als den Klausner geben musste.
Von der Panzerplattenstraße zweigte ein Feldweg Richtung Bodden ab. Auf einer der Moränen lag ein helles, zweistöckiges Gebäude, von Pappeln nahezu verdeckt. Der Hügel, das Haus und die Bäume, von fern Zypressen ähnlich, erinnerten Ed an Landschaften des Südens in Gemäldegalerien.
Institut für Strahlungsquellen — das Schild hing schief hinter dem Maschendrahtzaun neben der Einfahrt, es hatte kaum noch Farbe, nur die Buchstaben waren haften geblieben, oder jemand hatte sich die Mühe gemacht, sie nachzuzeichnen. Kruso ging am Tor vorbei. Nach ein paar Metern kippte er auf seine halb militärische Art in den Liegestütz und schob sich unter dem Zaun hindurch. Sie kamen vor ein hohes, schmales Backsteingebäude, dessen untere Hälfte wie zum Schutz von einem grasbewachsenen Erdhügel ummantelt war. Mit seiner Stahltür und dem Totenkopfschild erinnerte es an ein altes Trafohaus, nur die Kabel fehlten.
«Das ist der Turm«, erklärte Kruso.
Fenster gab es nicht, aber überall im Raum hingen Decken, die irgendetwas verhüllten und den süßlich-trockenen Geruch alter Wolle verbreiteten. Krusos Schritte auf einer stählernen Leiter, dann herrschte Stille. Ed atmete Staub, und seine Schleimhäute schwollen an. Langsam tastete er sich durch das Woll-Labyrinth, fand aber den Aufstieg nicht.»Nicht so einfach!«, brüllte Kruso von oben, er schien sehr zufrieden darüber.
Der im Turm verborgene Raum erinnerte an ein Jugendzimmer. Die Glühbirne, die ohne Schirm an einem Kabel von der Decke hing, beleuchtete matt ein Puzzle aus Fotos, Texten und Zeichnungen, dazwischen ein Che-Guevara-Poster und der verstaubte Prospekt eines metallicbraunen Volvo-Kombi. Alle Bilder waren mit kleinen schwarzen Flecken übersät, als litten sie an einer Krankheit; Ed hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Kruso zog ein paar Steine aus der Wand, und frische Salzluft strömte in den Raum. Gleichzeitig bewegte sich etwas in der gegenüberliegenden Ecke, wo sich ein Bett und ein Schrank befanden. Wahrscheinlich eine Katze, dachte Ed. Überall auf dem Boden waren Schlafsäcke und Kleidungsstücke verstreut.
Rechts von der schießschartenähnlichen Öffnung nach draußen hing eine große kindliche Zeichnung. Das grobe Papier, vielleicht die Rückseite einer Tapete, war gewellt und mit kleinen, in die Fugen getriebenen Nägeln befestigt. Kruso zog das Kabel mit der Lampe vor die Zeichnung und verankerte es an einem von der Decke hängenden Draht.
Die Zeichnung bestand aus drei übereinanderliegenden Farbflächen. Matte, ausdruckslose Wasserfarben, die Ed augenblicklich an die trostlosen Tuschekästen seiner Schulzeit erinnerten, an die immer schon halb versteinerten Farben, die mühsam aufgerührt werden mussten, so lange, bis man die Nerven verlor und den Pinsel (man hatte immer nur wenige Pinsel, ja, oft nur einen einzigen, mit dem sich wirklich arbeiten ließ) breitstieß an den runden bunten Steinen, die sich Palette nannten, womit das künstlerische Werkzeug in der Regel unbrauchbar geworden war. Die ganze Kindheit lang ein Kampf mit schlechtem Material, überalterter Substanz, ein Kampf voller Murren und Fluchen und doch in vollkommener Unschuld. Niemals in dieser frühen Zeit wäre Ed auf den Gedanken gekommen, nicht selbst das Schlechte zu sein, nicht selbst das Ungenügen. An wem sonst sollte das ganze Unglück liegen?
«Das ist die einzig wahre Karte unserer Welt, Ed, die Karte der Wahrheit , wie du es vielleicht sagen würdest.«
Kruso schaute ihn an. Er machte eine bedeutungsvolle Pause und gab Ed, der die ganze Zeit regungslos im Zimmer gestanden hatte, die Gelegenheit, das Papier näher zu betrachten. Es war voller Wasserflecken und Ränder, vielleicht ein stilisierter Sonnenuntergang, dachte Ed, eine Art Hiddensee-Expressionismus. Über der schwarzen Fläche gab es eine rote und darüber noch eine gelbe, gelb-rot-schwarz, und erst jetzt erkannte Ed das Bild der auf den Kopf gestellten Fahne. Ein feines Knacken — Kruso hielt eine Flasche in den Händen. Sehr langsam und auf eine fast feierliche Weise schraubte er den Deckel vom Hals. Ed erkannte die billige Marke, die man wegen des blauen Etiketts den» blauen Würger «nannte.
Unabhängig von den drei Farben gab es Linien, sehr feine Linien, die stellenweise mit den Wasserrändern genauestens übereinstimmten, und bald entdeckte Ed die Landesgrenzen: die Umrisse Rügens, Usedoms, den Darß und sehr fein, fast unsichtbar, die schmächtige Gestalt ihrer eigenen Insel, das Seepferdchen mit dem Flattermaul. Den verquollenen Schädel nach Osten gedreht, hielt das Tierchen sich aufrecht — halb im Schwarz und halb im Rot. Jetzt war es leicht, oben im Gelb die Umrisse der Königreiche Dänemark und Schweden auszumachen. Das Rot zwischen den Ufern des Südens und denen des Nordens war mit einem feinen Strichwerk kaum noch erkennbarer geometrischer Verbindungen überzogen, durchbrochene und durchgehende Linien, die sich wild überkreuzten. Das Ganze glich einem Strickplan oder Schnittmuster, wie Ed es einmal als Kind auf dem Stubentisch seiner Tante gesehen hatte. Zunächst war das ganz unfassbar gewesen — wie konnte seine Tante etwas zu tun haben mit Zeichnungen dieser Art, vielfach verschlüsselt und Geheimplänen ähnlich …
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