«Ich will damit noch warten. Erst den Band fertig machen«, sagte Kruso. Schließlich wurde klar, dass er bis dahin nie ernsthaft erwogen hatte, etwas drucken zu lassen, und, ja, dass Ed tatsächlich der Erste war, dem er etwas davon preisgab.
«Es ist, also, was mir zuerst aufgefallen ist …«
Ed war berührt von dem Vertrauen, das Kruso in ihn setzte, und er wusste noch nicht, in welche Richtung seine Bemerkung eigentlich gehen sollte. Ein paar Phrasen aus den Seminaren wischten vorüber, das Geschwafel von der besonderen Musikalität, der einzigartige Klang des Grals und so weiter.
«Ich würde es gern lesen«, unterbrach ihn Kruso.
Er fasste das Blatt mit beiden Händen, vorsichtig und aufmerksam, als wäre es von einem noch unbestimmten Gewicht. Sein Rücken streckte sich, sein Nacken wurde breit, genauso, als würde er daran gehen, eine seiner Klausner-Arbeiten zu verrichten, mit jener scheinbar ungestörten Konzentration, die eine Wertschätzung der Dinge ausdrückte und geeignet schien, einem haltlosen Abwäscher wie Ed die Welt als konkrete Aufgabe begreiflich zu machen.
Leise und monoton, ein wenig schleppend und dabei bestimmte Silben auf übertriebene Weise akzentuierend, trug er Zeile für Zeile vor. Er sprach das Gedicht mit jenem seltsamen Akzent, wie ihn Ed zuletzt beim Begräbnis des Lurchs wahrgenommen hatte. Am Ende jeder Zeile gab es eine längere, eigentlich zu lange Pause, in der nicht mehr als das Geräusch der fernen Brandung zu hören war, so klar, dass Ed einzelne ans Ufer schlagende Wellen unterscheiden konnte, und auch Kruso lauschte der Brandung am Ende der Zeile. Dann setzte er wieder ein, aber ohne wirklich anzuheben — wie sich herausstellte, war alles in der Schwebe geblieben, gehalten von der Spannung seines breiten, behaarten Oberkörpers und fixiert von der leicht vorgestellten Spitze seines Kinns.
Drei Strophen später saß Ed wie gefesselt im Bannstrahl des Vortrags. Dieselbe vorbildliche Kraft, die von Krusos Person ausging, wenn er die Abflüsse spülte oder Treibholz vor der Brust zum Holzplatz schleppte, ergriff und verwandelte das Gedicht, und am Ende war es das einzig mögliche — ja, das Gedicht stimmte . Es stimmte vollkommen überein mit Krusos Person, das heißt, es war mit seinen Worten gesagt, es hatte den eigenen Ton . Es war das einzig mögliche Gedicht.
Eds Befremden war wie weggeweht, seine Vorbehalte lächerlich, ein Gefühl der Erlösung. Augenblicklich verspürte er den Wunsch, etwas von sich selbst zurückzugeben. Er begann zu sprechen, stockte aber sogleich und verstummte, während Kruso in sich zusammengesunken neben ihm hockte; sein rechtes Augenlid hing halb herunter. Ed setzte noch einmal an, hilflos griff er nach seinem Notizbuch, das schon aufgrund seiner Größe lachhaft wirkte, hilflos nahm er die Hülle mit dem Foto zur Hand, und endlich entschlüpfte seiner Sprachlosigkeit die Frage.
«Auf dem Bild, ist das deine Schwester?«
Krusos Augenlid kehrte in seine Ausgangsposition zurück. Er fixierte das Foto. Das Foto: Im allerersten Moment hatte Ed geglaubt, er schaue in die Augen von G. Aber es handelte sich lediglich um eine Ähnlichkeit des Blicks und der Haltung, mit der das magere Mädchen in seinem grotesk aufgeputzten Kleid den Fotografen angesehen hatte, den blondgelockten Kopf leicht zur Seite geneigt und das Lächeln wie festgezurrt in den Mundwinkeln. Die Plastikhülle war stumpf und das Gesicht darunter wie im Nebel. Ed erkannte die waagerechten Augenbrauen, das Flächige der Wangen, Krusos Wangen …
«Wie kommst du darauf?«
«Wegen des Gedichts, ich dachte, es geht um sie … Um sie und um dich vielleicht, ich meine … Es ist wirklich großartig, Losch.«
Das erste Mal hatte er Kruso mit seinem Kosenamen angesprochen, es geschah einfach so.
Da Kruso nicht antwortete, stotterte Ed etwas wie» Das aber zum Beispiel weiß ich noch nicht …«und lachte gequält. Kruso hob den Kopf und schaute an ihm vorbei in die Nacht, fast stießen ihre Beine aneinander. Die ganze Zeit saß Ed auf dem Hocker vor seinem Tisch, einen halben Meter über seinem kostbaren Gast. Er redete direkt zur Wand, er redete mit den zerquetschten Insekten.
Wind kam auf, und ein schwaches Donnerrollen wie von weit entfernten Geschützen kroch über das Kliff. Mit einem Ruck erhob sich Kruso, und ehe Ed es begriff, packte er ihn an den Schultern und bog ihn rücklings über den Tisch aus dem geöffneten Fenster — ja, er hatte versagt, vollkommen versagt, und also gab es keine andere Möglichkeit …
Tatsächlich war Kruso aufgestanden und hatte sich zum Fenster gebeugt, fast beugte er sich über Ed hinweg, der sich weit zur Seite lehnen musste, damit Kruso nicht auf ihm lag.
Der Geruch seiner Achselhöhlen; süßlich, wie vergoren. Wie alte sonnengetrocknete Kiefernrinde.
«Ein Patrouillenboot.«
Krusos Gesicht war starr und fast weiß im Licht der Lampe.
«Es liegt sehr hoch im Wasser.«
Als bedeute diese Tatsache irgendetwas, griff Kruso nach dem Gedicht und ging zur Tür.
«Danke für gestern, Ed, ich meine — für deinen Vortrag. Ich wollte dich fragen, ob du mir das Buch leihen könntest?«
Als hätte jemand im Traum gesprochen.
«Ich habe das Buch — leider nicht hier.«
«Ich wäre wirklich sehr froh, wenn du mir etwas davon aufschreiben könntest, das heißt — ich möchte dich darum bitten. Vielleicht diese drei, vier Gedichte von gestern?«
Damit verschwand Kruso aus seinem Zimmer, fast ohne Bewegung. Die letzten Worte hatten seine Gestalt gelöscht.
«Ist gut, Losch«, flüsterte Ed.
Es war kurz vor Mitternacht. Das Rumoren im Flur hatte begonnen. Ed hielt das Foto in der Hand.
Kamikaze
7. JULI
Mit meiner Arbeit läuft alles gut, abgesehen von René. Rimbaud hat uns neue Bücher ins Nest gelegt. Und Cavallo hat mit mir über Rom gesprochen! Als wäre er selbst schon da gewesen. Dank Losch muss ich nicht mehr zu den Vergaben. Er hat mir einen der Inselkrieger vorgestellt, er kam gerade aus dem Schwarzen Loch, den Stahlhelm voll Bier. Kruso nennt ihn den» guten Soldaten«. Es war der Nackte vom Strand. Hab ihn sofort erkannt, aber natürlich nichts gesagt. Rick behauptet, er hätte einen grünen Mond gesehen, vom Tresen aus. Ich helfe ihm jetzt öfter mit den Fässern im Keller. Er ist der Einzige, der den Salonstocher bedienen kann. Ich bin gern dort unten. Um 8 Uhr kontrolliere ich die Temperatur im Kessel (80 Grad sind ideal), und gegen 11 lege ich noch einmal nach. Gestern riesige Wellen.
Da Ed nicht regelmäßig schrieb, konnte er manche Einträge über mehrere Tage laufen lassen. Sicher, das Ganze glich eher einem Protokoll, aber das war es, was ihm guttat daran. Ein Protokoll seiner Ankunft und wie er nach und nach Teil der Besatzung geworden war. Und jetzt? Wie er einen Freund gewann. Gewinnen würde.
Unter dem Arm das übergroße Notizbuch und eine frische Seife, gewickelt in sein Handtuch, balancierte Ed über die Steine, den Strand entlang. Seit ein paar Tagen besuchte er seinen Fuchs an jedem freien Abend. Sicher, das war … Eine Welle schwappte kühl über seinen rechten Fuß und schnitt den Gedanken ab. Ed musste lächeln. Vielleicht das erste Mal, seitdem er auf der Insel … Oder überhaupt das erste Mal seitdem . Er hatte eine Verfassung erreicht, in der jene Einteilung der Welt, die auf Unterscheidungen wie» belebt/unbelebt «oder» sprechend/stumm «gebaut war, ihren Sinn verlor. Wie nur durch Nähe etwas ein Wesen wird. Wie durch einen Spiegel tritt der neue Freund ins Zimmer. Ed wusste nicht genau, was er mit diesem Satz anfangen sollte, das Denken fiel schwer so nah am Meer. Man verlor seine Grenzen, man gab gern auf. Aufgeben, anvertrauen, dachte Ed — man öffnet sich und wird ein Teil davon.
Wie auch immer, es war sein Fuchs.
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