Sieben gegen sieben. Anfeuerungsrufe kamen von allen Seiten, gelungene Spielzüge wurden ausgiebig mit Beifall belohnt, dumpf und ohne Ende dröhnten die Trommeln der Khmer. Es war der Insel-Kambodschaner, seine fliegenden Hände, er konnte trommeln und tanzen zugleich. Am Ende hatte Ed an vier Spielen des Turniers teilgenommen. Sie traten in einer gemeinsamen Auswahl der Besatzungen von Klausner und Inselbar an (ihrer» Familie«, wie Kruso es sagte), jede Halbzeit hatte zehn Minuten. Viele Spiele bestanden aus einer endlosen Reihe von Fouls und sofortigen Entschuldigungen, Fouls und Kameradschaftsbekundungen, Fouls und Umarmungen, Wange an Wange: Es gab Spieler, die nach böser Grätsche lange so dastanden, mitten auf dem Platz, vertieft in die übliche Zärtlichkeit. Die Familien von Hitthim und Dornbusch galten als stark, konnten aber bezwungen werden. Indianer aus der Inselbar spielte Libero, Kruso im Mittelfeld, im Sturm Antilopé, die Kellnerin, ebenfalls aus der Inselbar. Es überraschte Ed, wie sicher und sprungstark Koch-Mike zwischen den Pfosten umherflog, trotz seines Schwergewichts.»Er ist ein leidenschaftlicher Keeper, ein bedingungsloser Hüter«, kommentierte Rimbaud,»genau das macht ihn so schrecklich und unberechenbar.«
Alles war anders als in den Nächten. Eds Schiffbrüchige wurde nicht von Dunkelheit verschluckt, sie blieb vollständig sichtbar. Ihre helle Haut, ihr Gesicht, das ganze Turnier über an der Seitenlinie. Ab und zu brüllte sie etwas ins Spiel. Ed vergaß, dass er noch vor einigen Tagen absolut am Ende gewesen war. Rimbaud kämpfte wie ein Tier und diskutierte jede Aktion, wodurch es immer wieder zu Unterbrechungen kam, obwohl er niemanden wirklich beleidigte dabei. Indianer, der sein Haar zu einem Zopf gebunden hatte, überquerte mit Riesenschritten das Feld; es wirkte langsam, fast träge, was mit seinem großen kantigen Körper zu tun hatte, der die Verhältnisse verzerrte, denn tatsächlich war er schnell, unwiderstehlich. Er marschierte diagonal, er öffnete das Spiel, dann der Pass in die Spitze, wo Santiago lauerte oder Chris hin und her sprang wie ein Derwisch, wendig, gewitzt … Ed sah Kruso, der links vor ihm lief und einen Pass annahm. Er war weniger schnell, aber schwer vom Ball zu trennen. Rasch rückte Ed auf und bot sich an.
«Losch!«
Die Trommeln dröhnten, und Ed spürte einen alten, fast vergessenen Stolz. Er hatte die Lieblingsspieler seiner Kindheit vor Augen, er ahmte sie nach. Kotte, der Kämpfer, der Stürmer, den kein Stoß und kein Bein zu Fall bringen konnten. Häfner, der Techniker. Dörner, der Libero. Irgendwann war Kotte plötzlich verschwunden, auf dem Zenit seiner Karriere. Allein im Kleingedruckten, in den Spielstenographien des Sportechos , war er sichtbar geblieben. Kein Bild, kein Bericht, nur sein Name, als Torschütze verzeichnet, mehrfach, dauernd, Kotte, der Flüchtling in spe, verbannt auf eine Insel der dritten Liga. Wie konnte er weiterspielen, wie war es ihm möglich, weiterhin Tore zu schießen, hatte sich Ed oft gefragt und zu ihm hin geträumt.
Nicht nur die Esskaas der Insel, auch Einheimische, Tagestouristen und Urlauber hatten sich rund um das Spielfeld versammelt. Einige, von denen es hieß, sie seien berühmt , darunter ein großer dünner Mann mit Brille, den man Lippi nannte und aus dem Fernsehen kannte. Neben ihm ein anderer Mann, der trotz Hitze eine Lederjacke trug mit geflochtenen Schulterstücken und von Fans begeistert mit» He, Quaster!«angerufen wurde. Vor allem aber kreisten die Gespräche um einzelne Esskaas, um ihre sagenhafte Arbeit in den sagenhaften Etablissements von Vitte, Kloster oder Neuendorf. Nichts als bewundernswert waren diese braungebrannten Helden der Saison, ihr vogelfreies, scheinbar bindungsloses Inselleben. Umso erstaunlicher schien ihr Zusammenhalt, kurz: Aus dem Turnier wurde eine Feier der Esskaas, ein Fest der Anerkennung ihrer Kaste. Statt Sonderlingen aus dem Bodensatz des Sozialismus konnte man in ihnen die Abkömmlinge der tapferen Horden König Hedins von Hedinsey erblicken, genauso, wie Kruso es geplant haben musste.
Während des Endspiels tauchten Leute in Uniform auf. Einige von ihnen versammelten sich hinter Koch-Mikes Tor, als wollten sie das alte, zwischen die Pfosten gebundene Fischernetz zur Tarnung benutzen. Irgendetwas geschah, aber im Spiel war es nicht möglich, genauer darauf zu achten.
«Losch, Losch!«
Ed war aufgerückt, er bot sich an.
Ich biete mich an, dachte Ed.
Sein Freund hob den Kopf, und Ed sah die Wut in seinen Augen.
Sofort nach Abpfiff wurden die Gläser gereicht. Auf dem Weg zum Strand hörte Ed mehrmals den Namen Willi Schmietendorf, ausgesprochen voller Respekt: Willi Schmietendorf, Direktor des Dornbuschs, der ein Fass gespendet hatte.»Bier von Willi Schmietendorf!«, war die Fanfare, mit der sie ans Wasser zogen, und es klang wie» Sieg an allen Fronten!«Ohne Zweifel hatten sie Bewunderung verdient, ausnahmslos, und Ed war glücklich, ganz zu ihnen zu gehören, vielleicht das erste Mal. Gemeinsam stemmten sie die schweren Henkelgläser in die Luft, die aussahen, als bestünden sie aus kleinen, aufeinandergepressten Butzenscheiben, in denen sich die Sonne brach, und für einen Moment stand goldenes Licht wie ein Heiligenschein über ihren verschwitzten Köpfen. Jemand, der dieses Glas über den Schädel bekäme, wäre sofort tot — Ed wusste nicht, woher der Gedanke gekommen war, sofort tot.
Die Schiffbrüchige wich nicht von seiner Seite. Gemeinsam erklommen sie den Damm mit der schmalen geteerten Promenade, die halb von Treibsand verweht war. Zuerst spürte Ed die Wärme, als würde er gestreichelt, zärtlich, unvermutet, eine warme Strömung im Gesicht.
«Was ist das?«
Ihre dünne Stimme vibrierte im Wind, und erst jetzt sah Ed aufs Meer hinaus. Eine lange Reihe grauer Patrouillen- und Torpedoboote versperrte den Horizont. Im Halblicht des Abends glich das Ganze einer schwimmenden Mauer, einem Limes aus Stahl, nur ein paar hundert Meter vom Ufer entfernt. Entweder man hatte die Kanonenboote festlich geschmückt oder die aufgepflanzten Fähnchen gehörten zu ihrer Ausstattung, eine Art Kriegsschmuck vielleicht, dachte Ed; es war ein grandioser, im Grunde unwiderstehlicher Anblick.
Wie Ameisen schleppten Soldaten Brennholz heran. Ein riesiges Feuer fraß sich in den Abendhimmel und teilte den Strand. Der Brandgeruch mischte sich mit dem Jodgeruch des Meeres. Linker Hand lungerten einzelne verschüchterte Grüppchen von Esskaas, in die Reste ihrer mit Hühnergöttern, Treibholz und Müll gepanzerten Strandburgen gekauert. Einige tranken Bier, einige nippten Schnaps aus Flaschen. Ein Stellungskrieg. Ed schmerzte das hilflose Herausragen ihrer Köpfe aus den Gräben — ratlos, verschüchtert, wie am Strand vergessene Kinder, umgeben von einer Welt, die plötzlich fremd und feindlich geworden war. Suchend blickten sie sich um, als warteten sie auf denjenigen, der ihnen das alles erklären würde. Erklären, was von den Dingen, die hier geschahen, zu halten war, am Tag ihres eigenen Festes, an ihrem eigenen Strand.»Scheiß auf die Soldaten!«oder» Schlagt ihnen das Butzenbier auf ihre Schädel!«— unwahrscheinlich, sicher, aber irgendeine Richtschnur wäre jetzt wichtig gewesen, und hätte Kruso sie ausgegeben, mit der ihm eigenen Ernsthaftigkeit, wer weiß?
Rechts vom Feuer, in der Nähe eines Mannschaftstransporters mit breiten, halb in den Sand gegrabenen Reifen, standen drei Offiziere der Beobachtungskompanie. Sie rauchten, und es sah aus, als hätten sie mit dem Ganzen nur bedingt zu tun. Ed erkannte Vosskamp, den Inselkommandanten, und seinen Oberfeldwebel. Es dämmerte bereits.
Draußen in der grauen Mauer sprangen die Motoren an. Die drei mittleren Schiffe brachten es fertig, synchron ihre Bordkanonen zu drehen, dreimal gegen die Uhr. Es gab ein paar mutige Pfiffe und einige Buh-Rufe von den Sandlöchern her. Auch ein einzelnes einsames Juchzen, wie man es kannte aus den Aufzeichnungen großer Rockkonzerte — einzelnes, irrsinniges Juchzen, im Mitschnitt verwandelt zu einer Sekunde rätselhafter Ewigkeit. Wer immer es ausgestoßen hatte, bereute es sofort: Zwei der drei Kanonen drehten sich noch einmal, diesmal aber nur um neunzig Grad. Ihre dunklen Münder und ihr kleines, kreisrundes Schweigen waren jetzt direkt aufs Ufer gerichtet. Am Strand kehrte Stille ein.
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