Irgendwann, in den Spielpausen der Bands, waren die ersten DJs in die Säle gesickert mit ihren lächerlichen Hits, anfangs noch ängstlich und verkrochen in irgendeiner Nische zu Füßen der Bühne, aber schon bald hatte es in der Stadt nur noch Discotheken gegeben, selbst das Parkett der heiligen Walhalla überfüllt mit tanzenden Kids, vierzehn, fünfzehn Jahre alt, die sich in stupiden Choreografien bewegten, statt wie Tiere im Käfig auf und ab zu springen oder wenigstens den Schädel durch die Gegend zu schleudern, was allerdings sinnlos gewesen wäre, denn ihre Haare waren tatsächlich kurz . Und in ihren Gesichtern stand nichts geschrieben von jenem Aufbegehren, jener lebensbesoffenen Sehnsucht, welche die Tänzer des Blues wie eine Horde von Derwischen übers Parkett trieb, nicht etwa in Paaren, nein, sie alle, alle gemeinsam, ihr ganzer Stamm füllte den Saal mit seinem Haar … Und nein, in diesen Discogesichtern stand nichts oder nichts als Schminke geschrieben, kein Gefühl, kein Rhythmus, der die Verhältnisse zum Tanzen brachte, kein Kampf und null Utopie. Sie gehörten nicht zu jenem Stamm vor der Zeit , vor der Gesellschaft und ihrer Ordnung, die doch vollkommen verseucht war von Banalitäten, Zwängen, Regeln, verseucht war von ihrer Agonie und der am Ende das Wichtigste fehlte: Ehrlichkeit, Gemeinsamkeit, Liebe vielleicht … Nein, nichts. Nichts als mit Glitzer übertünchtes Nichts, das waren die Discogesichter.
Und plötzlich waren sie alt gewesen, die Blueser, die sich Kunden nannten, einige erst Anfang zwanzig, wie Ed. Anfang zwanzig und alt. Die Disco hatte ihren Stamm besiegt und auf die Dörfer vertrieben, wo hölzerne Treppen auf winzige Säle führten, über verräucherten Schankstuben gelegen, wo es die Bands noch gab, wo noch Gläser zerdrückt wurden mit bloßer Hand und ein Kunde dem anderen die Scherben aus dem Handballen zog mit der für diese Handlung vorgeschriebenen, unvergleichlichen Zärtlichkeit. Am Abend von einem altersschwachen Linienbus der Marke Ikarus aufs Land verfrachtet, mussten sie heimwärts wandern, weite Wege über die Felder, das war ihre Steppe, Prärie, auch im kältesten Winter, von Trebnitz, Köstritz, Korbußen oder Weida, stundenlang schwankend, mit glasigen Augen durch die stockdunkle Finsternis des Osterlands, mit Schnee im Haar und Eis im Bart. Wer zu schwach war, fiel um und wollte liegenbleiben, aber das durfte keiner, kein Kunde, der einen anderen im Stich gelassen hätte, nie!
Ed hob den Kopf, in einem Moment plötzlicher Klarsicht erkannte er die Spiegelscherben und zwischen den Scherben den Umriss Afrikas; Gesichter versanken im Gewühl und tauchten wieder auf, ein Schlachtengemälde. Ein paar Esskaas, nur flüchtig, und vor ihm das schneeweiße Antlitz seiner Schiffbrüchigen mit ihren runden Wangen und halb gesenkten Augenlidern. Den seltsam einleuchtenden Vorschlag, Alexander Krusowitsch im Hitthim zu suchen, dort, wo für den Abschluss des Tages eine Disco der Esskaas geplant gewesen war, hatte sie gemacht. Der Nachtwind vom Meer her hatte ihre Schläfen gekühlt, das Gehen im Sand war ermüdend gewesen. Sie waren in eine stumme Herde schlafender Strandkörbe geraten, Eds Kopf längst zu schwer, um sich ins Schattendunkel jedes Einzelnen dieser vergatterten Wesen zu beugen mit ihrem frisch erkalteten Geruch von Kunstleder und Sonnenöl.
«Losch, verdammt, Losch!«
Sie tanzte in kleinen, träumerischen Bögen, mit ausgestreckten Händen, soweit das möglich war, und wiegte ihren Oberkörper. Kleine Möwe, dachte Ed, denn er war jetzt der Wald. Seine Arme froren ein, und auch sein Nacken wurde langsam steif. Ich bin der Wald, dachte Ed, letzter Hafen, erst waschen, dann füttern, dann schlafen, schlafen, letzter Hafen — aber dann trat das Meer über die Ufer, das eifersüchtige Meer … Langsam erstarrte Ed in seiner Bewegung; entweder er wurde jetzt wahnsinnig, oder er war bereits Teil der Legende. Er rang nach Luft, Tränen blitzten wie Bernstein auf seinen Wangen im schäbigen Licht der selbstgeklebten Discokugel, die sich drehte wie der Globus, der sie einmal gewesen, in einem früheren, besseren Leben, ohne Scherben, dafür voll mit Afrika, Asien und Ural und voller» Nennen-Sie-die-industriellen-Ballungsgebiete-der-Sowjetunion!«-Situationen, ohne Splitter, dafür voll mit Ed-das-Schulkind, wie erblindet vor dem Wüstengelb der tristen Wirtschaftskarten, während es Samara zeigt und Wolgograd, voll mit Osten, voll mit Westen, o du Erdball voller Schmerzen (Scherben), o du arme verhunzte geschundene Welt, o Welt, die sich drehte, drehte und ihn quälte mit ihren falschen Reflexionen, aber jetzt stand Ed nur noch da.
Weinender Wald.
Bernsteinlegende.
Mit Mühe hob er den Arm, berührte die Möwe und deutete auf die Stirnseite des Saals.
Beste Freunde bereiten sich Schmerz, dachte Ed, es ist ein Zeichen. Er ging auf die Knie und umklammerte das kotbespritzte Toilettenbecken.
«Das tut mir sehr leid«, sagte die Schiffbrüchige leise in seinem Rücken. In ihrer Stimme war alles enthalten, vor allem Verständnis. Dinge, die Ed nie gesagt, ja, noch nie gedacht hatte, marschierten wie fertige, maschinegeschriebene Zeilen durch seinen Schädel, mit blutigen Mützen, ganze Legionen eigener Worte , wie Verse, links und rechts versetzt, von Windflüchtern beschattet, so zogen sie vorüber; und irgendwo dort stand geschrieben: Wir haben uns geküsst, verstehst du?
«Geht es? Ich möchte lieber nicht so lange bleiben, ich meine, es ist die Männertoilette«, wisperte Heike.
Ohne sich umzusehen, hob Ed den Arm und ließ ihn wieder fallen: Geh doch.
Das Becken stank. Aus seiner Tiefe tauchte das Bild eines Kunden von damals auf, ein urster Kunde , worüber sich alle Blueser einig waren, Steffen Eismann, sein bester, sein einziger Freund. Was wäre, wenn er jetzt käme, jetzt, in diesen entsetzlichen Saal, um ihm seine blutige Hand entgegenzustrecken, was wäre, wenn … Kalter Schweiß brach Ed aus. Er versuchte, das Bild zu halten, und umschlang das Becken noch fester. Hinter ihm pisste ein Mann seinen endlosen Strahl in die frisch geteerte Latrine, deren Sturzbach wahrscheinlich direkt in den Hafen strömte. Das Pissen dröhnte in Eds Ohren und aus dem Toilettenbecken dröhnte die Disco. Sie roch nach Urin und Scheiße und wollte Steffen Eismann vertreiben. Aber alle am Tisch sahen zu, während Ed zärtlich Scherbe für Scherbe entfernte, Steffens großer Handrücken auf dem kühlen, biernassen Tischtuch; nach jeder Scherbe ein Blick in die Augen, es ging um Ehre und um ein Mädchen vielleicht (namens Kerstin oder Andrea), es ging um Musik und das Gefühl, im Rhythmus zu sein, im Rhythmus dieses eigenen, anderen Daseins auf dieser eigenen, anderen Welt.»Die Freiheit …«, flüsterte Ed in das Becken,»die Freiheit ist immer auch …«, nein, das war falsch,»die Freiheit ist anders …«, nein.»Die Freiheit des anderen ist — die Freiheit?«
Es war jämmerlich. Er brachte den Satz nicht zustande, den Satz, den hier wahrscheinlich jeder wusste, wissen musste, Luxemburg, London, ausweisen, ausreisen, jene endlose Folge von Verstößen und Verstoßenen, der Hausmeister von Halle auf seinen Flaschen, der Mann ohne Haare in seinem Schrank, auf einer Straße mitten in Berlin, und all die Schiffbrüchigen hier und all die Esskaas, meine Esskaas, seufzte Ed, die ich ins Herz geschlossen, Rolf, Rimbaud, Cavallo, der gütige Rick, die gute Karola und Chris, ihr strenger Harlekin — aber was war mit ihm? Der Gedanke bereitete ihm Pein. Was oder wer konnte er dabei sein?
«Ich biete mich an. Ich komme von hinten und biete mich an«, flüsterte Ed in den atemversetzenden Gestank des Beckens, und endlich stürzte es aus ihm heraus: ein langes, sich immer wieder neu, tief am Grund seiner Eingeweide entzündendes Gebrüll,»Kru-sooooo, Kruuu-soooo«, so sehnsüchtig und verzweifelt wie ein allerletzter Ruf, allein auf hoher See.
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