Ed hatte entdeckt, dass der Schacht ursprünglich eine Dusche gewesen war, und seine Zeit im Keller genutzt für ihre Urbarmachung — er hatte uralten Schlamm aus dem Abfluss gekratzt und den Kalk aus dem Duschkopf geklopft. Anfangs war das Wasser rostig und faulig, doch nach einer Weile wurde es besser. Die Armaturen quietschten und knirschten erbärmlich, aber sie funktionierten. Eine Weile stand man knietief im Wasser, dann schaltete ein Füllstandsmesser die Pumpe ein. Wenn er geheizt hatte und das Wasser im Kessel ausreichend erwärmt war, konnte er duschen: ein Luxus ohnegleichen. Nach der Zwiebel seine zweite ganz eigene Sache.
Im Feuer leuchteten die Schnecken. Sie richteten sich noch einmal auf, in ihrer ganzen Gestalt, wie neugeboren, ehe sie schlagartig schrumpften, mit einem kleinen Pfiff, als würde Luft entweichen.»Weiß Gott, wo sie immer wieder herkommen«, flüsterte Ed in den Ofen. Eine kleine Weile das Pfeifen aus der Glut, dann begann er Briketts aufzulegen, sorgsam, Stück für Stück.
Viola
28. JUNI
Rimbaud hat mir heute ein Buch gezeigt und daraus vorgelesen, es heißt» Das Theater der Grausamkeit«, ein Westbuch. Jede Woche liegt ein anderer Titel im Nest, manchmal sogar mehrere. Hat er sicher vom Buchdealer. Ich darf das Nest jetzt auch allein benutzen, wenn dafür Zeit ist. Alle hier sind eine Gemeinschaft.
Täglich um zwölf Uhr aß Ed seine Zwiebel. Gemeinsam mit seinem Schweigen ergab das Zwiebelritual (als hätte diese Koordinate noch gefehlt) das Bild eines gemäßigten Sonderlings, von dem nicht viel zu befürchten war und, ja, dessen Aufnahme keine schlechte Entscheidung gewesen sein konnte. Auf gewisse Weise begründete die Zwiebel seine Stellung im Klausner. Bald wurde Ed als eine Art Ruhepol angesehen zwischen den galoppierenden und rezitierenden Vertretern im Service, dem cholerischen Eisverkäufer mit seinem Eiskübelgehämmer und Rick am Tresen, der mit Geschichten und Weisheiten eine Art lebensphilosophischen Ausschank betrieb. Bei Ed am Becken hingegen herrschte Konzentration und Besonnenheit. Schon von daher lag seine Nähe zu Kruso auf der Hand, ein Freitag an der Seite Robinsons, und niemand musste sich besonders wundern darüber, dass beide immer öfter zusammen anzutreffen waren. Dabei ging es in der Regel nur um die täglichen Unterweisungen Eds, des neuen Abwäschers und Heizers. Ed bestaunte die Veränderungen, und wieder einmal wunderte er sich darüber, dass er es selbst war, dem all das geschah. Ab und zu tauchte jenes verschämte Glück auf, das sich weigerte, direkt mit ihm in Verbindung zu treten, und manchmal, ganz unvermittelt, stand ihm G. plötzlich vor Augen — er hatte keinen Einfluss darauf.
Warum tat es so gut, wenig zu reden?
Er hatte das nicht vorgehabt, aber dann begriff Ed, dass das Schweigen innerster Bestandteil seiner Flucht war, inzwischen nannte er es so. Er musste einfach für sich bleiben, aber er wusste auch, dass er jetzt nicht allein sein durfte … Im Geiste hatte er es versehentlich umgekehrt formuliert und doch genau so gemeint: Ich möchte einen Platz auf der Welt, der mich aus allem heraushält. Später war er den Strand entlanggegangen und hatte den Satz aufs Meer hinaus gesprochen, wie eine Bitte, aber die Wellen waren zu hoch, das Meer zu laut, und der Wind schob ihm die Worte in den Mund zurück.
Seine Zurückhaltung half ihm, Anzeichen von Schwäche oder Unerfahrenheit zu vermeiden. Er sagte» Hallo «oder» Ja «und» Genau«. Bei allem konnte man» Genau «verwenden.»Genau «war die bestmögliche Antwort, wenn sich jemand einen Scherz mit ihm erlaubte oder versuchen wollte, ihn zu verspotten, was anfangs öfter und dann immer seltener vorkam. Alles, was Ed widerfuhr, wurde von» Genau «schlicht verdoppelt und in der Verdopplung seines Gewichts enthoben, seiner Größe beraubt. Alles konnte auf diese Weise rasch akzeptiert oder zurückgewiesen werden. Er brauchte keine Verteidigung, keinen Graben. Alles, was auf ihn zukam in dieser Fremde, war nicht mehr als genau das .»Genau «war die kürzeste und beste Beschreibung der Insel. Die Insel» Genau «lag mitten in seinem Schweigen, uneinnehmbar.
Vom Abwasch aus hatte Ed es irgendwann entdeckt — ein Radio, das von Koch-Mike» meine Viola «genannt wurde. Es handelte sich um ein Röhrenradio der Marke Violetta , ein dunkler Holzkasten auf einem unerreichbar hohen Bord über den Gefrierschränken, direkt unter der Küchendecke; offensichtlich konnte es nicht mehr abgeschaltet werden. Das Bord war aus rohen Stahlwinkeln gefertigt und schien stabiler als die Grundmauern des Klausners. Die Bespannung des Lautsprecherkastens war verkrustet von uraltem Fett, aus dem grünflackernd die kleine Linse des magischen Auges blinkte. Wie ein Lidstrich im Make-up einer Greisin glänzte darüber das Silber ihres Namenszugs; Viola zwinkerte Ed zu. Sie zwinkerte in seinem Rücken, während er sich über das Becken beugte. Oft verschwand sie auch vollkommen im Nebel. In den sich überlagernden Echos der Küche wurde ihre Stimme auf irritierende Weise ortlos und schien direkt dem gespenstischen Gewaber zu entspringen, das von den Kochstellen aufstieg. Viola, so erzählte Koch-Mike, stamme noch von seinem Vorgänger, der beim Nachtbaden ertrunken war, im Sommer 1985. Der Sender wäre noch eingestellt und das Radio eingeschaltet gewesen, als er und Rolf wenig später die Küche des Klausners übernommen hätten. Mehr gab es aus Koch-Mikes Sicht darüber nicht zu sagen.
Ed beschäftigte der Gedanke, dass das Radio seinen Besitzer überlebt hatte — ohne zu verstummen. Auf gewisse Weise konnte es als die Stimme des alten, ertrunkenen Kochs angesehen werden, die sich seit Jahren ohne Unterlass über die Töpfe des Klausners ergoss und seine Speisen überzog mit ihrer endlosen Sendung. Für einen unsinnigen Moment erschien ihm das als Akt des Widerstands, Hinweis auf ein vor langer Zeit begangenes Unrecht vielleicht, wie eine Hand immer wieder aus dem Grab herausschnellt, phantasierte Ed, während ihm der scharfe Dunst des Spülmittels zu Kopf stieg und er Teller für Teller durch das Steinbecken fürs Grobe schleuste. Er bemühte sich, seinen Rhythmus zu halten, er wollte nicht langsamer sein als Kruso.
Die Drehregler fehlten, und die elfenbeinfarbenen Tasten, die an eine Art Überbiss erinnerten, waren zertrümmert. Derart verstümmelt, empfing Viola nur noch Deutschlandfunk, diesen aber mit einer Unnachgiebigkeit, wie sie Kriegsversehrten nachgesagt wird, die trotz schwerer Verletzung weiter und weiter kämpfen. Was Viola dabei aus den Sendungen machte mit ihrem schwankenden Empfang, ihrem schlagartigen Verstummen oder störrischen Brummton, ihrem Kratzen, Gurgeln und Husten (vor allem ihre Bronchialgeräusche waren schlimm), gerann zu einer Art Grundton des Klausners. Ihre endlose Sendung war wie das Atmen des Hauses, schwankend, aber beständig, dem Rauschen der Brandung vergleichbar und im Grunde unbeachtet …»Dudelt nur so, dudelt so«, wie es Koch-Mike sagte.
Im Abwasch hörten sie nicht viel von Viola, oft nur ein sanftes Brausen mit Obertönen. Das Zeitzeichen war das deutlichste Geräusch. Zwölf Uhr. Beim letzten Ton zog Ed seine Hände aus dem Wasser. Er drückte die Schwenktür zur Küche einen Spalt auf und bat um seine Zwiebel. Irgendwann ging der stumme Rolf dazu über, ihm einen Teller vorzubereiten und auf die Ablage rechts hinter der Schwenktür zu stellen, so dass er nur noch zuzugreifen brauchte: eine große, glänzende, in Hälften vorgeschnittene Zwiebel und eine Scheibe Mischbrot. Ed verharrte dann für einen Moment, den Rücken gegen einen Flügel der Tür gestemmt, und bevor er seinen Dank in den Raum brüllte (sein Blick suchte Rolf oder Koch-Mike im Küchennebel), erreichten ihn ein paar Sätze Violas. Ed fühlte sich hingezogen zur Monotonie ihrer halbstündlich wiederkehrenden Erzählungen, deren Inhalte tagelang kaum variierten. Am Ende das Wetter, Wasserstände, Windgeschwindigkeiten. Es gab Suchmeldungen und Reiserufe, und auch eine Sturmwarnung brauchte keine besondere Betonung.»Bundeswirtschaftsminister Haussmann hat seine Warnung wiederholt, die Arbeitszeit weiter zu verkürzen. Die Bevölkerung in der Bundesrepublik soll von Tiefflügen entlastet werden. Hören Sie nun die Meldungen im Einzelnen.«
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