Jeden Morgen vor dem Aufstehen sprechen Sie mit Kraft und Energie:»Wir sind stark. Wir sind reich. Wir sind voll des Glückes und der Harmonie. OM, OM, OM.«(Und wenn ich es ohne» OM «sage? Oder nur mit zwei» OM «s? Oder vier?)
Sie haben das Recht zu triumphieren. Der Geist muss die Materie besiegen. (Machen wir uns nichts vor. Das ist nicht möglich. Am Ende wirst du von der Materie, die du bist und die um dich herum ist, niedergerungen.)
Wir können das Elend nicht hinnehmen. Das Elend ist den gescheiterten Geistern eigen. (Und wer will sich schon nachsagen lassen, zu diesen zu gehören, nicht wahr?)
Sprechen Sie nicht mit anderen über die Dinge, die Sie betreffen. Ihre Angelegenheiten betreffen einzig und allein Sie. Denken Sie daran, dass es die anderen nicht interessiert, was sie wollen. (OK)
Werden Sie zu einem altruistischen, gütigen Menschen. Indem wir anderen helfen, schaffen wir Gutes für uns selbst. Das ist das Gesetz. (Ich spüre die Bereitschaft in mir, das glauben zu wollen. Ich schäme mich für mein vorangegangenes zynisches Verhalten. Aber ich spüre auch nicht die Kraft in mir, wirklich helfend zu werden. Wenigstens keinem schaden. Soweit bin ich immerhin schon gekommen.)
Es ist unerlässlich, das Ego aufzulösen und stets nur als» wir «zu denken. Der Begriff» wir «hat viel mehr Kraft als das egoistische» ich«.
Alle großen Misserfolge im Leben sind die Schuld des Ichs.
Das Ich ist das Wünschen, das Ich ist Erinnerung, Furcht, Gewalt,
Hass, Verlangen, Fanatismus, Eifersucht, Misstrauen.
Gibt es Leute, die das wollen? In einem Buch gedruckt sein? Mit der Geschichte zu ihrem Gesicht?
Oh ja, sagt Doiv. Viele wollen das. Sie wollen, dass etwas von ihnen bleibt. Und sie wollen sich mit anderen vergleichen. People are longing for stories. Und sie wollen Gesichter sehen. Jeder Mensch ist so. Es kann auf einem Bild sein, was will, wenn ein Gesicht drauf ist, schaut man dorthin. Es ist vielleicht nicht immer das Zentrum eines Bildes oder das Wichtigste darauf, aber dass man es schaffen würde, ein vorhandenes Gesicht auf einem Bild nicht anzuschauen: das gibt es nicht.
Well, sagte Darius Kopp. Aber du warst nicht mein Anhalter, also…
Was ist dir unangenehm: Gesicht oder Geschichte? (Lacht. Es ist trotzdem eine Frechheit.)
Weder noch. (Du bist es.) Ich denke nur nicht, dass es interessant ist. (Grad dir werde ich es erzählen. Wer bist du überhaupt? Jemand, dem ich nicht vertraue.)
Warum? Was hast du getan?
Getan? Nicht so viel. I am just a businessman.
Uazjonaim?
Pardon?
What's your name? Darius.
Die junge Frau an der Rezeption, sagt Doiv, heißt Nermiye. Ihre Geschichte ist, dass sie, obwohl sie wie 20 aussieht, 30 Jahre alt ist und noch nie im Ausland war. Deswegen ist sie auch noch nicht verheiratet. Sie sagt: ich heirate nicht, bevor ich im Ausland war.
Nice.
Wo kommst du her? Berlin.
Würdest du Nermiye empfehlen, dorthin zu fahren? Ja, warum nicht. Bist du dort geboren?
Nein.
Kommst du aus der Stadt oder vom Land? Weder noch. Kleinstadt.
Liegt sie am Meer?
Nein.
Meine liegt am Meer.
Das war sicher schön. Als Kind. Am Meer.
Ja, war great.
Der Besitzer teilt mit, das türkische Bad sei bereit. Darius Kopp fürchtet, mit Doiv und dem Besitzer dort hingehen zu müssen — Früher hättest du dich dem mit Freuden hingegeben, als einem weiteren Beweis deines Ausgewähltseins für ein prächtiges Leben — Ja, früher. Heute ist das Letzte, das sich Kopp wünscht, die Nähe zum nackten Körper anderer Männer — doch Doiv sagt: Enjoy! und verschwindet.
Allerdings zum letzten Mal für eine ganze Reihe von Tagen. Die nächste Zeit wird Darius Kopp ausschließlich in Gesellschaft von Doiv Dajkn verbringen. Das ist sein Name: David Deacon. Kopp läuft mit ihm mit, als wäre ich sein Anhalter, als hätte ich keine andere Wahl. Doch, hätte ich, aber das hier ist ebenso gut. Mal was anderes. Mit seiner Sorte hatte ich bisher in meinem Leben noch nicht zu tun gehabt.
Neben The convoy verfolgt Doiv das Projekt A living. Wer tut wo was, um sein Überleben zu sichern. Er fotografiert die drei Großmütter mit den Gürteln auf der Bank. Die Männer, die von der Galata-Brücke aus Fische aus dem Hafenbecken fangen. Sardinen und Garnelen in durchsichtigen Plastikbechern auf improvisierten Tischchen. Doiv legt sich für Stunden auf die Lauer, um zu sehen, ob jemand diese Fische kauft.
Und? fragt Darius Kopp, der nach Besichtigung einer Moschee, eines Platzes, eines Markts und zahlreicher Schiffe zurückgekehrt ist.
Passanten haben nichts gekauft. Ein Händler vom Fischmarkt ist gekommen, aber er hat nur die lebenden Sardinen genommen. Wahrscheinlich muss die Familie das am Ende des Tages essen. Außerdem kannst du davon leben, Sesamkringel zu verkaufen, Wasser, Nüsse und Maiskolben. Kauf bitte du auch einen Sesamkringel. (1 Sesamkringel und einen halben Liter Wasser, das ist das Einzige, was sich Doiv pro Tag kauft. Du hast bald kapiert, dass du ihn einladen musst, wenn du nicht willst, dass ihr der fette Kapitalist mit dem Kebab und der arme Künstler mit dem Sesamkringel seid. Wenn man Darius Kopp etwas nicht nachsagen kann, dann ist es Knausrigkeit. Brüderlich, statt nur gerecht.) Während Taschentücher zu verkaufen im Grunde Bettelei ist. Doiv hat einen etwa zehnjährigen Jungen fotografiert, der mit Striemen im Gesicht abgewandt an einer Wand kauerte, sechs Packungen Taschentücher neben sich auf dem Gehsteig. Erst geht es dir durch Mark und Bein, dann sagst du dir, das ist doch eine Inszenierung, dann schämst du dich, dann machst du ein Bild, weil du dir sagst, es dokumentiert zu haben ist schon etwas, dann fängst du an, es in Gedanken einem Projekt zuzuordnen, anderen Bildern, du arbeitest an einem Konzept, schiebst das Bild hin und her, und der Junge als solcher verschwindet und auch die Frage, ob es eine Inszenierung war, und zwischendurch schämst du dich wieder, aber alles in allem hast du dann doch das Gefühl, das Richtige zu tun. Bei uns wurden die Kinder übrigens auch geschlagen, und das war keine Inszenierung. Ein sogenannter Witz war, dass der Vater nach Hause kommt und es ist Lärm und Durcheinander und er will einen seiner Söhne schlagen, trifft aber die Mutter und sagt: Auch gut, die hat es bestimmt genauso verdient. Aber mein vermutlich bestes Bild hier wird doch das vom alten Riesen sein, der mit einer Personenwaage auf der Brücke steht.
Doiv stellt für 1 Lira sein Gewicht fest, mit Mantel und Degen, und redet dabei auf den sehr groß gewachsenen alten Mann ein, erzählt ihm, er sei Fotograf, macht ein Foto von ihm und seiner Waage und gibt ihm auch dafür eine Lira und redet und redet, kümmert sich nicht darum, dass nicht einmal einst mit internationalem Businessenglisch vertraute Personen (Darius Kopp) verstehen, was er sagt. Der alte Riese lässt sowieso alles stoisch über sich ergehen. Wieg dich auch mal! sagt Doiv zu Darius Kopp. Als gehörte sich das so. Und jetzt gib ihm eine Lira, so.
Kopp wollte erst nicht, dann wog er sich doch. Ich wiege immer noch 108 kg. Mit Mantel und Degen. Immer noch bin ich 30 Jahre von einem alten Mann entfernt. Ich bin, ungefähr, Doivs Generation. Deswegen gibt er sich ab mit mir. Während er mir zugleich wie ein alter Hippie und eine mir vollkommen unbekannte jugendliche Spezies vorkommt. Schau, Flora, wen ich aufgegabelt habe. Einen einsamen Menschen, der sich überall auf der Welt zurechtfindet.
Das Leben ist eine absurde Folge von flüchtigen, eitlen Wünschen. Wenn Sie im Leben triumphieren möchten, müssen Sie das Ich auflösen, müssen Sie alle Ihre Defekte eliminieren. Wenn sich das Ego auflöst, werden wir von Überfluss und Glück erfüllt.
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