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[Datei: rontás]
Es war einmal, vor langer Zeit, als es noch keine Handys gab, eine letzte Straßenbahn. Es war einmal, vor kurzer Zeit, eine nächtliche Bushaltestelle.
Ich kam aus der Spätvorstellung und stieg aus Versehen in eine Bahn ein, die nur bis zum Betriebshof fuhr.
Ich hockte die letzten 4 der 12 Stunden vor einem steinzeitlichen Faxgerät im Lager, um in 10er Gruppen 1000 Adressen anzuwählen.
Später legte ich mich auf meinen Mantel.
Ein heruntergekommener Mann stand in der Wendeschleife und zog an seinem Zahn. Ich hörte es zippen.
Später kam der Chef herein und brachte mir einen Teller mit erkaltetem Essen. Nein, danke, sagte ich mit sanfter Höflichkeit. (Wie kommt es, dass du, obwohl du weißt, dass dieses lebende Bild, in dem du hier gerade auftrittst, die Wahrheit so perfekt abbildet, dass du beinahe kichern musst, du dich dennoch gedemütigt fühlst? Ja, das ist mein Leben. Assistentin des Produzenten. Soviel, wenigstens, glaube ich sagen zu können: den Tiefpunkt des Tages haben wir also hiermit hinter uns. Doch, Achtung: Du sollst den Tag nicht vor dem Abend verdammen.)
Endstation! schnauzte der Fahrer durchs Mikrophon. Der Mann mit dem schlechten Zahn schaute durch die Scheibe höhnisch herein. Ich ging nach vorne zum Fahrer und bat ihn, mich mit in die Remise zu nehmen, dort draußen stünde jemand, der mir nicht geheuer sei. Hättest du dir früher überlegen sollen, Püppi, sagte er, ohne mich anzuschauen. Bitte, sagte ich. Raus, sagte er. Nein, sagte ich. Da fuhr er doch noch mit mir in die Remise. Jetzt können Sie die Türen öffnen. Gleich, sagte er und fasste meine Brüste an. Kräftig, schmerzhaft. Ich sah ihm in die Augen. Nur die Brüste, dann ließ er mich los und öffnete die Tür. Ich rannte durch die Dunkelheit, bis ich an die Donau kam. Die Bushaltestelle war nicht leer. Ein Pärchen stand da, einander umarmend. Ich stellte mich ans andere Ende, unter eine Lampe. Ich dachte noch: wie schön rot dieser Mantel ist und dass es doch gut ist, eine Frau zu sein, weil dich so etwas froh machen kann.
Er kam wankend, eine Schulter war schon ganz schiefgezogen. Ein Gnom wie aus dem Märchen. Ein betrunkener Jemand. Spricht mich an.
Wieviel?
Ich tue so, als hörte ich ihn nicht. Ich sah zu meinen Schuhen. Ich hab dich was gefragt! Wieviel? Sag nicht, du bist kein Profi. In dem Mantel. Wieviel, na sag schon! Ich dreh mich weg.
Er: Hä?! Fasst mich an. Ich ziehe den Arm weg.
Lassen Sie mich in Ruhe.
Was? Was sagst du? Was sagst du?
(Immer dieses» Du!«,»Du!«,»Du!«. Wie kann er mich so nennen?) Fasst noch einmal nach, packt mich wieder am Arm, ich versuche, ihn wegzustoßen, wir rangeln, und dann tut er etwas, womit ich nicht mehr rechne, seitdem ich älter als 10 Jahre bin: er tritt mir gegen das Schienbein. Der Knochen kracht wie trockenes Holz, eine Beule wächst, aber so groß, so schnell, dass sich das Mädchen aus dem Paar die Hand vor den Mund hält vor Schreck. Er ist davongelaufen. Sie haben einen Krankenwagen gerufen. Ich schämte mich.
Die Frage ist nicht, wie konnte es passieren. Die Frage ist, wieso passiert es nicht jeden Tag. Tut es doch.
Kommt zu Hause an, öffnet die Wohnungstür, lässt den Schlüssel auf die Holzschwelle fallen, tritt seine Schuhe klopfend irgendwohin, macht Licht im Flur, geht die Treppe hinauf, in die Küche, findet dort das für ihn beiseitegestellte Abendessen, dazu gibt's Fernsehen, wenn wir Pech haben, läuft etwas, das man nur schwer wieder ausschalten kann. Irgendwann wird der Fernseher natürlich trotzdem ausgeschaltet, wieder die Treppe, wieder eine Tür, wieder das Licht, das ist jetzt das Bad, aber das ist schon egal, sie ist längst wach, er legt sich neben sie, sie haben Sex oder nicht, dann schläft er ein und sie ist wach, irgendwann greift sie sich ein Buch, läuft lesend auf und ab. Einmal hast du es gesehen, iooomal hast du es nicht gesehen. Sie hätte ebenso gut hinausgehen können und ein Parallelleben führen mit irgendwelchen Gestalten der Nacht und wäre am nächsten Morgen wieder da gewesen, frisch gewaschen, und du hättest geglaubt, sie wäre einfach um so viel früher wach gewesen als du.
Die Wahrheit ist: sie hatte wirklich ein Parallelleben. Du hattest Angst, über D zu lesen? Und so gut wie nichts über D zu lesen, davor hattest du keine Angst? Nein, weil du es dir nicht vorstellen konntest. Das ist hier unsere Ehe. Babycalamari, Chorizo und Citalopram, einatmen 1-2-3-4-5, ausatmen 1-2-3-4-5. Wozu, wofür? Um den Anschein zu wahren. Elende Scheiße! Zeig dich gefälligst! Denkt nicht daran.
Keine. Lasst mich hier in der Scheiße! Weil ihr es könnt! Und ich? Fange schon an, mich auszukennen!
Darius Kopp fluchte unzitierbar, der Laptop fiel beinahe hinunter, im Nachfassen riss er beinahe die Gardine am Fenster herunter. Die Tür zur Küche im Hof gegenüber ist grün und geschlossen. Das muss ein Ende haben. Sich auskennen an schrecklichen Orten, die nur für den Übergang taugen. Gewohnheiten entwickeln. Wissen, wo es auch mal nicht schrecklich ist. Die Markthalle am nicht allzu frühen Morgen zum Beispiel ist angenehm und der kleine Park am Abend, wo Darius Kopp Unordnung verursachte, indem er sich auf eine Bank setzte. Auf allen anderen Bänken saßen ältere Leute, immer im Paar, alte Ehepaare oder Geliebte oder Freunde, saßen da in schöner Harmonie, in einem winzigen Park mit alten Platanen — die beeindruckende Schönheit der Bäume, wohin du auch kommst; das muss man ihnen lassen —, es gab nur eine Irritation: Darius Kopp, der allein auf einer Bank saß, auf der offensichtlich sonst ein Pärchen aus zwei alten Frauen zu sitzen pflegte. Die Arme verschlungen spazierten sie im Kreis und schielten aus den Augenwinkeln zu Darius Kopp, der zuvor für mehrere Minuten glücklich gewesen war. Als er begriff, was los war, stand er auf und ging, setzte sich auf die Steine am Strand vor dem Hotel und sah nach Korfu hinüber und spürte, es hatte keinen Sinn, weiter zu bleiben, aber er spürte auch, dass er unmöglich schon wieder zurückfahren konnte. Geht nicht. Wenn ich daran denke, umzukehren, zu fahren, anzukommen, wieder dort zu sein. Unmöglich. Aber was willst du sonst tun? Verdammte. elende. Ja, sag es den Steinen. Ich bin alleine hier. Die Insel da drüben ist Korfu. Die griechische Grenze ist vielleicht eine Autostunde, Athen weniger als eine Tagesreise entfernt.
Wir kennen jemanden in Athen. Unseren Mann in Athen, Aris Stavridis mit Namen. Wir waren, als das Wünschen noch geholfen hat, Kollegen, saßen gemeinsam in einem Whirlpool in Kalifornien, mein väterlicher Freund und Führer durch die Ober- und Unterwelt einer international agierenden Firma. Das letzte Mal haben wir uns während der letzten Tage von Fidelis Wireless in Berlin gesehen, beinahe zwei Jahre her. Ob er überhaupt weiß, was seitdem geschehen ist? Auszuschließen ist es nicht. Einer, der immer alles weiß. In Darius Kopps Handy finden sich an die 4000 Telefonnummern, wenigstens eine davon gehört zu Aris Stavridis. Wenigstens eine davon wird funktionieren, davon war Kopp überzeugt, und ebenso, dass niemand, den er kannte, geeigneter war, um über alles zu reden, als Aris Stavridis. Mit Stavridis reden, danach wirst du wissen, was zu tun ist. Er rief ihn an.
Stavridis ging nach zweimal Klingeln ran, aber nicht in Athen, sondern in Paris. Lärm schlägt herüber und sofort kommt Hektik auf — immer ist er hektisch am Handy, immer.
Ich bin nicht da! Ich bin in Paris! Geschäfte! Noch 10 Tage! Aber dann komm unbedingt vorbei! Wie geht es dir? In 10 Tagen bin ich wieder da! Das ist ja nicht mehr weit! Unbedingt, du musst unbedingt kommen! Wie geht es dir? Du musst mir alles erzählen!
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