Der kleine Finger und der Ringfinger, die den Daumen berühren, weisen auf die menschliche und göttliche Natur Christi hin. Wenn der Zeigefinger den Daumen berührt, erhalten wir das Zeichen der Dreifaltigkeit. Beide Hände erhoben ist die Orante, die Gebetshaltung. Auch Maria kann sie einnehmen. Die Fremdenführerin ist grauhaarig und stämmig, sie trägt ein blaues Seidentuch ums Haar. Sie vergisst, die Hände herunterzunehmen, redet lange in der Gebetshaltung. Gold ist die Farbe der Mittagssonne, des Göttlichen überhaupt, die Farbe Christi. Als Hintergrund einer Ikone deutet sie darauf hin, dass sich das Dargestellte außerhalb der Dimensionen dieser Welt befindet. Weiß ist die Farbe von Gott Vater, der niemals Mensch geworden ist und so immer unsichtbar bleibt. Hier bemerkt sie, dass sie die Arme noch erhoben hat, und senkt sie. Leiert: Blau ist die Farbe des Glaubens, der Transparenz, der Demut, Blau und Weiß sind die Farben der Mutter Gottes, Rot kennzeichnet die Jugend, die Schönheit, die Fülle, die Gesundheit, die Liebe und den Krieg, den Heiligen Geist, die Opferung und die Selbstlosigkeit. Sie spricht lange von den Frauen. In der Westkirche sind sie durch ihre Attribute zu unterscheiden, den Gegenständen, die sie bei sich führen, in der Ostkirche kann man sie für gewöhnlich nur anhand des Namens identifizieren, der auf der Ikone steht.
Eine weißhaarige, gläubige Feministin. Was sagst du dazu, Flora? (Schau, ich habe dich gewählt.)
Niemand erscheint.
Natürlich nicht. Da ist niemand. Nirgends wird einem das klarer als an Orten angeblicher Spiritualität. Wenn nichts in dir erklingt. Wenn du nur die schreienden Farben siehst und die unfreiwillig komischen Gesichter der gemalten Heiligen. Gottvater sieht aus wie ein Druide. Er ist auch einer. Ich wäre gerne getröstet, aber ich muss akzeptieren, dass manche Wege dorthin für mich nicht begehbar sind. Jemand hat sich eine Menge Mühe mit religiösen Fresken gemacht, und meine Frau ist tot. Wer tot ist, ist tot. Nix da, magisches Denken. Ich hatte das, ich gebe es zu. Das Zimmer nicht geräumt, denn du könntest wiederkommen und es brauchen. Meine fürsorglichen Freunde haben es dann für mich gemacht, aber damit war ich noch längst nicht geschlagen. Ich habe mir auch das zurechtgelegt: dann ist das Zimmer jetzt eben im Lagerraum. Es ist nicht erlaubt, im Lagerraum zu übernachten, sie haben Kameras installiert, um das zu kontrollieren, aber wenn du wiederkommst, zeige ich dir als Erstes die Sachen, und wir können sie ganz leicht wieder aufladen und mitnehmen, wenn es sein muss, fahre ich die ganze Nacht hin und her und bringe immer neue Kartons, so lange, bis alles wieder in der Wohnung ist — So viele Leute. So viele Leute. Sie interessieren sich für das Schöne und respektieren es. Dennoch sind sie unerträglich. Wie sie hinund herziehen. Wie Mikroorganismen in zu großer Vergrößerung. Als sich für eine Sekunde eine ungestörte Sichtachse zum Innenhof auftat, sah Darius Kopp einen als Mönch gekleideten jungen Mann in der Nähe der Tür stehen. Ich kann das nicht anders denken: ein als Mönch gekleideter junger Mann. Unmöglich. Wenn er wirklich ein Mönch wäre, könnte er das hier unmöglich ertragen. Darstellung, alles Darstellung, ein Job, am Abend spielt er Pingpong im Jugendclub und flirtet mit den Mädchen. Dass er guten Sex haben möge, wünschte Darius Kopp dem Mönchsgewandträger da draußen, der ihm jetzt außer ihm selbst als der einzige reale Mensch hier erschien, während die anderen wie eine Fortsetzung der Abbildungen an den Wänden waren, steife Gewänder, gemalte Gesichter. Er taumelte ins Freie. Der Mönch war nicht mehr da. Kopp ging zur Wiese, auf der sie damals die Brote gegessen hatten, und legte sich ins Gras.
Die Wiese ist schön. Es ist Herbst, wir sind in den Bergen, das Wetter ist schön. Wem keine Religion gegeben ist, kann das haben. Am jenseitigen Rand der Wiese begann der Wald. Sobald er sich etwas erholt hatte, stand Kopp auf und ging dorthin. Natürlich war er auch dabei nicht allein. Auf der Wiese waren welche, auf dem Waldweg waren welche, wenn auch nicht so viele wie im Kloster. Er ging zügig. Sie hinter sich lassen (und dabei keinen anderen einholen?). Die Wege waren gut ausgeschildert und markiert, er nahm den, der am leersten erschien, und dann ging er einfach und ging.
Ich weiß nicht. Das heißt: ich weiß es. Ich hatte gehofft, wenn ich einmal alles aufschreibe-- Ihn mit kaltem Wasser übergossen, bis er zu einer Eisstatue erstarrt ist. Oder Eiswasser auf den Nacken, bis er eine Gehirnhautentzündung bekam. Die Lippen mit rostigem Draht vernäht. Die Sammlung von Augäpfeln. Das Röntgengerät auf Kopfhöhe. Das System ist untergegangen, aber der Tumor im Kopf wächst weiter. Das wiedergutmachen?
Ich dachte, wenn ich alles aufschreibe, verschwindet das Gesicht. Und, ist es verschwunden?
Ja.
Und, ist es jetzt besser?
Ich weiß nicht. Das heißt, ich weiß es. Dass das alles nur Worte sind, also zu ertragen. Während die Wirklichkeit nicht zu ertragen ist.
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[Datei: Ruhelosigkeit]
Das Urteil der Ruhelosigkeit.
Wenn du nicht gefällst, jagen wir dich in den Wald, lebe, sterbe, wie du kannst.
Oder ich lief von alleine hinaus. Nur weg hier, weg.
Das Ende der Welt ist jenseits des Friedhofs.
Von Traktoren aufgerissener Feldweg.
Aber so tief, dass du das Gefühl hast, die Schlammränder reichen dir bis über den Kopf.
Dabei sind sie nur knöchelhoch und ausgetrocknet.
Weiß getrocknetes Schwarz. Du geh nur.
Im Mittelalter war der Wald noch so groß, dass du monatelang nicht
herauskamst. 9 von 10 überlebten den Winter nicht.
Der Zehnte kam heraus, woanders: als wilder Mann.
Die wilde Frau.
Die wird natürlich mit runden Brüsten dargestellt.
Struppiger Bart oder runde Brüste.
Oder er kam nie heraus.
Wer den Winter überlebt, warum sollte der herauskommen?
Weil er es von Anfang an gewollt hat.
Mit anderen sein.
Woanders neu beginnen.
Immer und immer wieder.
Weil er denkt, das muss man so.
Aber ich will nicht immer wieder von vorn anfangen.
Ich will, dass einmal etwas nicht abbricht.
Dass man es länger aushalten kann als einige Wochen oder Monate. Als müsste ich permanent von Eisscholle zu Eisscholle hüpfen.
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[Datei: Gruen_nyomán]
Angelehnt an Gruen:
Die bösartigen Prozesse des eigenen Geistes, das, was wir gegen uns richten, bringen manche nach außen und richten es gegen einen anderen, während andere alles weiterhin nach innen richten. Und dann gibt es noch die, die zur Unterstützung noch Böses von außen hereinholen, und DAS ist es, das mich so ungeheuer gegen mich aufbringt. Dass ich noch importiere, obwohl ich selbst schon überproduziere. Wenn ich glauben würde, dass das Dämonen sind, würde ich sagen, sie spüren ihre Kollegen auf und laden sie ein: haben eine tolle Partylocation gefunden, Jungs!
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[Datei: fáj]
In Ordnung, dass schmerzt, was zu Recht schmerzen kann,
Verletzung, Grobheit, Ungerechtigkeit,
aber wenn selbst die Form, die Farbe der Dinge schmerzt
die Pflastersteine, die Linien im Beton,
und das ist noch das Wenigste
dieser furchtbare Lärm, wie laut alles ist,
die anderen schlagen wie Granatsplitter neben dir ein,
wie permanent im Krieg,
was weißt du schon vom Krieg
nichts
Scham
aber dass es die Hölle ist, bleibt
meine Nachbarn fangen morgens um 6 an, sauber zu machen, und bitten um Entschuldigung für nicht vorhandene Unordnung
die Ärmsten
sie sehen auch nicht besser aus
ich weiß nicht, was wird
ich weiß nicht
Du bist immer so gegangen. Als dürftest du eine gewisse Geschwindigkeit nicht unterschreiten. In guten Zeiten konnte meine Frau den ganzen Tag ohne Unterbrechung laufen. Einmal 24 Stunden. Erst die Pfirsiche, dann die Johannisbeeren, zuletzt die Äpfel. Hundert Kilometer. Plusminus. Eine warme Sommernacht, Sternenhimmel, leere Straßen — erst, als es wieder hell wurde, hielt sie an. Als hätte die anwachsende Helligkeit die Kraft aus ihr gesaugt. Wäre es weiter dunkel geblieben, hätte ich noch weitermachen können.
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